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Das fand ich nun doch interessant.

»Und wo kommt dann das Wort Diskurs her?«

»Im Mittellatein gab es den Begriff discursus - das hieß: zappeln, hin- und herrennen. Betrachten wir die Etymologie jedoch genauer, so haben wir das Verb discurrere, wobei currere rennen bedeutet und dis- eine Vorsilbe der Negation ist. Diskurs hieße demnach: Rennen verboten! Damit keiner auf Fluchtgedanken kommt.«

»Flucht wovor?«

»Wenn du das verstehen willst, sollten wir besser bei A anfangen«, sagte Baldur. Er beugte sich zu seinem Köfferchen hinunter und zog eine bunte Illustrierte hervor. Schlug sie in der Mitte auf und drehte sie zu mir herum.

»Was du auf diesen Photos siehst, ist Glamour. Die Textblöcke dazwischen sind Diskurs. So weit, so klar?«

Ich nickte.

»Man könnte es anders formulieren«, sagte Baldur. »Alles, was der Mensch sagt, ist Diskurs ...«

»... und wie er dabei aussieht, ist Glamour«, ergänzte Jehova.

»Aber dieses Postulat taugt allenfalls als Ausgangspunkt ...«, sagte Baldur.

»... weil die Bedeutung der beiden Begriffe in Wirklichkeit weit darüber hinausgeht«, beendete Jehova den Satz.

Allmählich bekam ich den Eindruck, vor einer Stereoanlage zu sitzen, bei der zwei zackige Vampire als Lautsprecherboxen dienen. Und was ich da hörte, stammte eindeutig aus der Schublade Psychedelics der Sixties - damals mochten es die Rock-Avantgardisten, den Sound so zu zersägen, dass der Konsument den Stereoeffekt in vollem Umfang genießen konnte.

»Glamour ist Sex, der sich durch Geld artikuliert«, sprach die linke Box. »Oder wenn man so wilclass="underline" Geld, das durch Sex artikuliert wird.«

»Und Diskurs ist sublimierter Glamour«, konterte die rechte Box. »Kannst du mit dem Begriff Sublimation etwas anfangen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann sagen wir besser so«, nahm die linke Box den Faden auf: »Diskurs ist ein Mangel an Sex, ausgedrückt durch fehlendes Geld.«

»Im Extremfall kann der Sex in der Glamourgleichung auch außerhalb der Klammer stehen«, gab die rechte Box von sich. »Geld, artikuliert durch Sex, lässt sich darstellen als durch durch Geld artikulierten Sex artikuliertes Geld. Also letztlich durch Geld artikuliertes Geld. Gleiches betrifft den Diskurs, nur mit einer Korrektur ins Imaginäre.«

»Diskurs ist ein schillerndes Spiel unbewusster Inhalte, die der Glamour hervorbringt, während er im blanken Neid auf kleiner Flamme vor sich hinköchelt«, sprach die linke Box.

»Glamour«, sprach die rechte, »ist ein schillerndes Spiel gegenstandsloser Bilder, die der Diskurs hervorbringt, während er im Feuer sexueller Erregung verdampft.«

»Glamour und Diskurs verhalten sich zueinander wie Yin und Yang«, sprach die linke.

»Der Diskurs umrahmt den Glamour, ist für ihn eine edle Verpackung«, erklärte die rechte.

»Der Glamour verleiht dem Diskurs Vitalität, bewahrt ihn vor der Austrocknung«, wusste die linke zu ergänzen.

»Betrachte den Glamour am besten als Diskurs des Körpers ...«, sprach die rechte.

»... und den Diskurs als Glamour des Geistes«, gab die linke zurück.

»An der Schnittstelle dieser Begriffe entsteht die ganze moderne Kultur«, sprach die rechte.

»Als dialektische Einheit von glamourösem Diskurs und diskursivem Glamour!«, setzte die linke darauf.

Baldur und Jehova sprachen die Wörter Glamour und Diskurs profimäßig englisch aus, Betonung auf der ersten Silbe, was für sich genommen schon Respekt einflößte und dazu führte, dass man ihren Ausführungen traute - aber nicht verhindern konnte, dass ich sehr bald einschlief.

Meine Lehrer zogen es vor, mich nicht zu wecken. Wie sie mir hinterher erklärten, eignet man sich das Material im Schlaf viermal schneller an, weil störende mentale Prozesse ausgeschaltet sind. Als ich aufwachte, waren Stunden vergangen. Jehova und Baldur sahen erschöpft, aber zufrieden aus. Ich hatte keine Erinnerung an das, was in der Zeit geschehen war.

Die nachfolgenden Unterrichtsstunden liefen allerdings vollkommen anders ab.

Gesprochen wurde kaum - nur ganz selten bekam ich von den Lehrern etwas diktiert. Zu Beginn jeder Unterrichtseinheit packten sie Plastikgestelle auf den Tisch, von denen eins wie das andere aussah, nämlich wie zur Ausrüstung eines DNA-Testlabors gehörig. In den Gestellen waren kurze Reagenzgläschen mit schwarzen Gummistöpseln aufgereiht. In jedem befand sich eine geringe Menge transparenter Flüssigkeit; an die länglichen Stöpsel waren Papierstreifen mit Nummern und Buchstaben geklebt.

Präparate!

Der Unterricht folgte einer einfachen Methode. Ich ließ mir jeweils zwei, drei Tropfen aus einem Gläschen auf die Zunge rinnen und schluckte sie mit einer klaren, leicht bitteren Flüssigkeit, die Fixierer genannt wurde. Daraufhin erstanden in meinem Gedächtnis ganze Massive zuvor nicht vorhandenen Wissens - ein geistiges Polarglühen, Informationsleuchtfeuer. Das war nicht anders als bei meiner allerersten Verkostung - nur mit dem Unterschied, dass dieses Wissen sich nicht wieder verflüchtigte, wenn die Wirkung des Präparats abklang. Zu verdanken war dies dem Fixierer, einer komplizierten, auf die Gehirnchemie Einfluss nehmenden Substanz. Bei Anwendung über einen längeren Zeitraum war er gesundheitsschädlich, darum musste der Unterricht so kurz wie möglich sein.

Die zu verkostenden Präparate waren Cocktails - raffinierte Kombinationen aus der roten Flüssigkeit einer Vielzahl von Leuten, deren Schatten sich in meiner Wahrnehmung übereinanderlegten und einen schemenhaften Chor zum jeweiligen Thema ergaben. Neben dem reinen Wissensstoff wurde ich auch mit Details ihrer Biographie abgefüllt, die oftmals lästig und öde waren. Die gelüfteten Geheimnisse weckten keine Neugier in mir, im Gegenteil.

Mit der Art und Weise, wie ein normaler Student ein Kapitel aus einem Buch oder eine Vorlesungsmitschrift paukt, hatte die Form des Wissenserwerbs aus den Präparaten nicht viel zu tun. Die Quelle, aus der ich mich versorgte, glich einem Endlosfernsehprogramm, wo Schulsendungen sich abwechseln mit Seifenopern, Familienphotoalben und schlechten Amateurpornos. Wenn man sich andererseits vor Augen hielt, dass ein normaler Student die nützliche Information von sich aus ganz ähnlich garniert, durfte meine Ausbildung als vollwertig gelten.

Eigentlich machte das geschluckte Wissen mich nicht klüger. Doch wenn ich nun über irgendetwas nachdachte, kamen die neuen Informationen unversehens aus dem Gedächtnis gesprungen, die Gedanken gingen andere Wege, trugen mich an Orte, die ich mir tags zuvor nicht hätte vorstellen können. Am besten scheint mir diese Erfahrung durch ein altes sowjetisches Lied wiedergegeben, das ich in der Blüte meiner Jugend gehört hatte (darin seien Breschnews Memoiren vertont, hatte Mama damals gewitzelt):

Heute will ich vor der Sonne

aufstehn,

Über weite Stoppelfelder

laufen ...

Mein Gedächtnis spielt mir böse

Streiche:

Alles, was nicht mir passiert ist,

weiß ich ...

Zuerst wurde mir himmelangst dabei. Begriffe, von Kindesbeinen an vertraut, erblühten in völlig neuen Bedeutungen, die ich nicht gekannt und über die ich nie nachgedacht hatte. Es geschah ganz plötzlich - wie jene Kettenreaktionen im Bewusstsein, wenn ein zufälliges Erlebnis einen vergessenen Traum aus dem Gedächtnis heraufholt, der alles um einen her in anderem Licht erscheinen lässt. Soviel ich wusste, waren die Symptome der Schizophrenie auch nicht viel anders.