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Doch da die Welt von Tag zu Tag interessanter wurde, verlor ich schon bald alle Furcht, begann die Veränderungen gar zu genießen.

Einmal fuhr ich beispielsweise mit dem Taxi die Warschawskoje entlang und sah an einer Fassade zwei Bären prangen mit dem Schriftband Einiges Russland darüber. Und augenblicklich kam mir in den Sinn, dass das russische Wort für Bär - medwed - nicht immer sein richtiger Name war, sondern ursprünglich nur eine Umschreibung mit der Bedeutung: der den Honig isst. Die alten Slawen nannten ihn so, weil sie fürchteten, er könnte sich eingeladen fühlen, wenn man ihn bei seinem wahren Namen nennt. Aber wie lautet dieser Name? fragte ich mich und wusste im selben Moment die Antwort: Ich entnahm sie dem russischen Wort für Bärenhöhle, berloga - der Ort, wo ... der Bär liegt. Bär! Genau wie die weniger abergläubischen Deutschen und Engländer dieses Tier nennen. Und wieder verknüpfte mein Gedächtnis das Wort schlagartig mit einer ihm innewohnenden Erklärung: Bär bärjot. Heißt: Der Bär hat ein »einnehmendes« Wesen ...

Diese Gedankenkette spulte sich in Blitzesschnelle ab, und als das Ergebnis vorlag, die jäh aufscheinende Wahrheit hinter dem neuen Emblem der siegreichen Bürokratie, hatte das Taxi die Fassade mit den Bären noch nicht passiert. Ich musste lachen. (Der Fahrer, im Glauben, meine Fröhlichkeit hätte dem Lied im Radio gegolten, drehte es lauter.)

Das Hauptproblem, vor dem ich anfangs stand, war, im Wust der Wörter nicht die Orientierung zu verlieren. Solange das Bewusstsein die Dinge nicht scharfgestellt hatte, konnte ich mich auf groteskeste Weise im Bedeutungswirrwarr verirren. Tenderness war ein mit der Eisenbahn trampendes Sommerloch-Ungeheuer, xenophob sein hieß, Xenia Sobtschak nicht zu mögen, ein Patriarch war ein patriotischer

Oligarch, eine Primadonna, obschon von Adel, stank nach Priem, enfant terrible hörte ich als: Aller Anfang ist schrecklich schwer. Am durchschlagendsten aber war meine Erkenntnis, Petrograd könnte nicht von Peter dem Großen abgeleitet sein, sondern von petrol. Hoch lebe das Ölgeschäft! Nach dieser Auslegung wäre Petrodworez ein passender Name für jedes Nobelbüro der Branche, und die berüchtigte Prophetie eines Dichters am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Und Petersburg ward Petrograd nun

In Stunden, die man nie vergisst...

könnten in Wirklichkeit den G8-Gipfel neunzig Jahre später gemeint haben.

Besonders an fremden Wörtern wucherten die Bedeutungen. Den Namen Gore Vidal konnte ich nicht lesen, ohne ihn sofort kyrillisch transkripiert zu sehen, und dann stand da: Viel Leids Gesehen ... Kein Name für einen amerikanischen Erfolgsschriftsteller, sondern einer, der nach roher Zwiebel und Gorkis Universitäten roch. Das Gleiche bei Gay Pride: Da ich nun wie selbstverständlich wusste, das pride im Englischen auch ein Löwenrudel ist, stand mir, noch bevor ich die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks realisiert hatte, ein schwules Idyll in der afrikanischen Savanne vor Augen: Zwei Old Boys mit Hängeschnauzern lagen Seit an Seit unter einem dürren Baum im verbrannten Gras, spannten in die Runde und ließen ihre Muskelpakete spielen; ein properer Jungmann führte seinen Trizeps im Schatten eines Affenbrotbaums vor, umringt von sich kugelnden Welpen, die ihn belästigten mit ihrem Gejuchze und Getue, sodass der Knabe sie ab und zu mit einem leisen Knurren zurechtwies ...

Kurzum: Ein Zuviel an Information konnte einem genauso zu schaffen machen wie Unwissenheit.

Ich machte rasante Fortschritte, ohne mich sonderlich anstrengen zu müssen, büßte jedoch zugleich meine innerliche Bewegungsfreiheit ein. Jehova hatte mich gewarnt: Der Unterricht würde mich älter machen. Denn das reale Alter eines Menschen richtet sich nach dem, was er alles hinter sich hat. Dafür, dass ich mir fremdes Wissen unter den Nagel riss, bezahlte ich mit meiner Unerfahrenheit, die ja nichts anderes ist als Jugend. Vorläufig bekümmerte mich das jedoch nicht weiter, da mir die diesbezüglichen Währungsreserven unerschöpflich schienen. Indem ich mich ihrer entledigte, hatte ich das Gefühl, Ballast abzuwerfen, und ein unsichtbarer Ballon zöge mich in den Himmel hinan.

Der Diskursunterricht würde mir das verborgene Wesen der modernen Philosophie eröffnen, versicherten Baldur und Jehova. Einen wesentlichen Raum im Lehrplan nahmen Fragen der menschlichen Moral ein, Begriffe von Gut und Böse. Wobei wir uns ihnen nicht von außen her näherten, nicht über das Studium dessen, was die betreffenden Leute gesagt und geschrieben hatten, sondern durch Kenntnisnahme ihrer intimsten Gedanken und Gefühle. Überflüssig zu sagen, dass dies meinen Glauben an die Menschheit schwer erschütterte.

Beim Betrachten diverser Geistesgrößen fiel mir eine interessante Gemeinsamkeit auf. Jeder dieser Menschen trug eine Art moralische Schiedsstelle mit sich herum, die der Verstand in aller Aufrichtigkeit anrief, wenn wieder einmal irgendeine Schurkerei zu begehen anstand. Diese Instanz hatte regelmäßige Aussetzer - und ich verstand, warum dem so war. Hier der betreffende Eintrag in meinem Heft:

Die Menschen haben schon immer geglaubt, dass das Böse in der Welt triumphiert und das Gute erst nach dem Tode vergolten wird. So entstand eine Art Balance zwischen Himmel und Erde. Diese Balance ist in unserer Zeit gestört. Die himmlische Belohnung erscheint heutzutage nur noch absurd. Der Triumph des Bösen in der irdischen Welt bleibt jedoch bestehen. Darum muss jeder normale Mensch, der nach dem Positiven auf Erden sucht, unweigerlich zum Parteigänger des Bösen werden: Das ist so logisch wie der Eintritt in eine alleinherrschende Partei. Das Böse, auf dessen Seite der Mensch sich schlägt, steckt nur in seinem Kopf und nirgends sonst. Wenn aber nun alle Menschen insgeheim zum Bösen konvertieren, das einzig und allein in ihren Köpfen besteht - was braucht das Böse dann noch, um zu triumphieren?

Das Verständnis von Gut und Böse berührte unmittelbar Fragen der Religion. Was ich darüber in den Religionsstunden erfuhr (Religion als »Regionalkult«, wie Jehova sich auszudrücken beliebte), fand ich doch sehr verblüffend. Wie den Proben der Reihe Gnosis+ zu entnehmen war, wurde kurz nach Entstehung des Christentums der Gott des Alten Testaments in neuer Doktrin als Teufel angesehen. Später dann, in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als es galt, den römischen Staat zu befestigen, wurden Gott und Teufel politisch korrekt zu einem Anbetungsgegenstand vereinigt, dem zu huldigen ein rechtgläubiger Patriot des untergehenden Abendlandes nicht umhin konnte. Die Quellentexte wurden sortiert, abgeschrieben und dabei sorgfältig im neuen Geist redigiert, alles Übrige verbrannt, wie es sich gehört.

Dazu schrieb ich das Folgende in mein Heft:

Jedes Volk (im Grunde jeder einzelne Mensch) sollte sich seine Religion tunlichst selbst erarbeiten, anstatt die alten, abgetragenen Klamotten zu übernehmen, in denen es von fremden Flöhen wimmelt ... Daher rühren alle Krankheiten! Völker, die heutzutage auf dem Vormarsch sind - Indien, China usw. -, importieren lediglich Technologie und Kapital, die Religion bleibt hausgemacht. Ein jedes Mitglied dieser Gesellschaften darf sich sicher sein, die eigenen Kakerlaken anzubeten und nicht irgendwelche untergeschobenen, nachträglich frisierten, womöglich nur falsch ab geschriebenen oder übersetzten. Bei uns hingegen ... Eine Handvoll Texte zum Fundament der nationalen Weltanschauung zu machen, von denen man nicht weiß, wer sie wo wann geschrieben hat - das ist, als hätte man auf einem Strategiecomputer eine geklaute Version von Windows 95 in türkischer Sprache installiert: ohne Updatemöglichkeit, mit Sicherheitslücken, Würmern und Viren en masse und einer von unbekannter Künstlerhand umgemodelten dynamischen Bibliothek *.dll, weshalb sich das System alle zwei Minuten aufhängt. Die Menschen bräuchten eine offene Architektur des Geistes: open source. Doch die Judäochristen sind schlau. Jeder, der solch eine Architektur vorschlägt, ist der Antichrist, ln einer fernen Zukunft hocken und mit einem gefakten Hintern fäkalieren, der noch in der fernen Vergangenheit hängt - das ist das eindrücklichste aller Wunder des Judäochristentums.