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Kurz, in meinem Kopf ging so einiges durcheinander. Aber ich fand das nicht weiter tragisch - früher hatte sich dort überhaupt nichts bewegt.

Mit dem Glamour wurde es immer schwieriger und undurchschaubarer (ungefähr wie früher in der Schule mit der organischen Chemie). Manchmal kam ich mir vor wie ein totaler Flachkopf. Zum Beispiel konnte ich lange nichts mit dem Ausdruck vamposexuell anfangen - und das war ein Schlüsselbegriff in diesem Lehrgang. Baldur riet mir, ihn in Analogie zum Wort metrosexuell zu verstehen - und ich war gelinde erschüttert, als ich erfuhr, dass dieses gar nicht die Vorliebe für Sex in der Untergrundbahn meinte.

Baldur erläuterte mir den Sinn des Wortes so: »Metrosexuell ist einer, der wie ein Schwuler herumläuft, ohne schwul zu sein. Das heißt, er könnte auch schwul sein, muss es aber nicht...«

Das klang einigermaßen verzwickt, und ich bat Jehova um nähere Erläuterungen.

»Metrosexualität«, erfuhr ich von ihm, »ist nur eine neuere Verpackung von Geltungskonsum.«

»Hä?«, machte ich, entsann mich jedoch im selben Moment der Information aus einem kürzlich konsumierten Präparat. »Ach so, ich weiß: conspicuous consumption. Der Terminus wurde von Thorstein Veblen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eingeführt...«

Ich konnte die nächste Glamour-Stunde kaum erwarten, um Baldur diese Erkenntnis unter die Nase zu reiben.

»Mit was Jehova dir nur immer das Gehirn verkleistert?«, brummelte der missmutig. »Geltungskonsum. Damit kannst du vielleicht im Westen was beweisen. Bei uns in Russland musst du die Dinge beim Namen nennen. Ich habe dir doch schon erklärt, was ein Metrosexueller ist.«

»Ich weiß. Wieso läuft der noch mal rum wie ein Schwuler?«

»Na, ist doch klar: um seiner Umwelt zu signalisieren, dass er Geld scheißt.«

»Ja, gut. Und vamposexuell, was soll das nun sein?«

»Dein Ding. Du musst es ja werden. Da lässt sich nichts festlegen. Alles Intuition.«

»Und wieso muss ich das?«

»Um am Puls der Zeit zu bleiben.«

»Und wenn sich rausstellt, dass der Puls der Zeit ganz woanders schlägt?«

»Der Puls der Zeit«, sagte Baldur, »kann überall sein, weil die Zeit ja gar keinen Puls hat. Aber die Zeitungen haben Leitartikel. Und es genügt, dass ein paar Zeitungen behaupten, der Puls der Zeit schlüge da und da, dann sagt dir das am nächsten Tag jeder, einfach um mit der Zeit Schritt zu halten. Obwohl die auch keinen Schritt hat.«

»Welcher normale Mensch glaubt denn, was in Leitartikeln steht?«

»Normale Menschen, wo hast du die zum letzten Mal gesehen? Davon gibts im Land vielleicht noch hundert, und die hat der FSB in Watte gepackt. Alles nicht so einfach. Einerseits hat die Zeit weder Puls noch Schritt. Andererseits geben alle sich Mühe, am Puls der Zeit zu sein und mit ihr Schritt zu halten, darum updatet das Kartell sein Weltmodell regelmäßig. So dass die Leute sich plötzlich alberne Bärtchen stehen lassen oder Seidenkrawatten um den Hals schlingen, nur damit man sie nicht aus dem Büro jagt. Und Vampire müssen an diesem Prozess wohl oder übel teilhaben, um im Milieu aufzugehen.«

»So weiß ich aber immer noch nicht, wäs vamposexuell ist.«

Baldur nahm ein Gläschen vom Tisch, das da noch von der letzten Diskursstunde herumlag (Dt. klass. Philos., Abfüll. Phil.Fak. Uni, sagte der Aufkleber), schüttelte sich den letzten verbliebenen Tropfen auf den Gaumen und schmeckte.

»Erinnerst du dich an die elfte Feuerbachthese?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Von wem?«

»Dumme Frage. Von Karl Marx natürlich.«

Ich strengte mein Gedächtnis an.

»Moment, wie ging das ... Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«

»Genau so ist es. Dir obliegt nicht zu wissen, was vamposexuell ist, Rama. Du sollst es nur werden.«

Natürlich hatte Baldur recht. Die Theorie besagte in derlei Dingen nicht viel. Doch der Glamourlehrgang beschränkte sich nicht auf Theorie. Mir war »Umzugsgeld« ausgehändigt worden: ein schwerer, in Plastik eingeschweißter Packen Tausendrubelscheine und eine Visa Card, mit der ich über die - für mich schwindelerregende - Summe von einhunderttausend Dollar verfügen konnte. Eine Abrechnung erwartete keiner von mir.

»Übe dich!«, sagte Baldur. »Wenn es alle ist, sag Bescheid. «

Spätestens hier verfestigte sich in mir der Gedanke, dass das Vampirdasein eine solide und ernsthafte Angelegenheit war.

Für einen Vampir gab es zwei Orte, um sich standesgemäß einzukleiden und mit dem sonst Notwendigen zu versehen: das LovemarX an der Ploschtschad Wosstanija und die Ladenpassage Archetypique boutique, Posharski Projesd.

Geschäften, Restaurants oder gar russisch geschriebenen Romanen fremdsprachige Namen zu geben ist, nebenbei gesagt, eines der vulgärsten Kennzeichen unserer Zeit und mir seit Längerem ein Dorn im Auge. So als wollte man damit sagen: Wir gehören nicht dazu, wir sind hip, offshore, eurosaniert. Solches Gebaren rief in mir schon lange nur noch Übelkeit hervor. Aber die Schriftzüge LovemarX und Archetypique boutique hatte ich unterdessen schon so oft gesehen, dass die Gereiztheit verflogen war und die Stunde der Analyse schlug.

Aus dem Theoriekurs wusste ich, dass der Glamour mit dem Wort lovemarks Waren zu bezeichnen pflegt, die dem Menschen ans Herz gewachsen sind und die er gar nicht mehr losgelöst von seiner Person zu betrachten vermag, sie sind für ihn das Rückgrat seiner Persönlichkeit. Das große X am Ende war Zugeständnis an juvenile orthographische Vorlieben, wenn nicht Rückbezug auf die Wurzeln des Komsomols. (Immerhin stand im Verkaufsraum an gut sichtbarer Stelle eine Marxbüste aus Marmor herum.)

Die Archetypik-Budike war ein ganzer Boutiquenkomplex, in dem man sich leicht verlaufen konnte. Die Auswahl größer als im Laffmarx - doch ich mochte diese Lokalität nicht. Es kursierten Gerüchte, in dem Gebäude habe früher eine Gulag-Inspektion gesessen - die geodätische Verwaltung oder die Personalabteilung oder was weiß ich. Als ich das hörte, war mir klar, warum Baldur und Jehova das Haus »Archipel Glamour« oder einfach Archipel nannten.

An den Wänden hingen vielerlei Photographien von Sportwagen mit bescheuerten Unterschriften: Karre No. 51, Karre No. 89 usw. Auf dem Warenbon stand eine dieser Nummern, und wenn der Kunde an der Kasse die zugehörige Automarke nennen konnte, bekam er 10 % Rabatt.

Ich begriff, dass das ein schlauer Werbegag war: Der Kunde irrt durch den Gulag auf der Suche nach seiner Karre und stößt dabei auf immer neue Ware, die er in selbige legen kann. Doch ich fand diesen metaphorischen Magnetismus einfach nur gräulich.

Noch ein Handelszentrum gab es, wo Nippes wie teure Uhren oder Zigarettenspitzen zu erwerben waren: das Height Reason. Boutique für die denkende Elite - so der Claim, mit dem sich der Laden in der Begrüßungsbroschüre positionierte. Russisch geschrieben, las sich der Name eher wie High Treason, was schon merkwürdig war.

Als Nichtraucher benötigte ich keine Zigarettenspitzen. Was teure Uhren betraf, so schreckte mich die Patek-Philippe-Werbung in selbiger Broschüre nachhaltig ab. Dort hieß es: You never actually own a Patek Philippe. You merely look after it for next generation! Aus Tarantinos Pulp Fiction wusste ich noch, wie eine solche Übergabe kostbarer Chronometer von Generation zu Generation vonstatten gehen konnte. Dort trägt der Vater des Helden eine Uhr in seinem Mastdarm durch die Jahre im japanischen Gefangenenlager. Die Geschichte des Unternehmers Chodorkowski hat dieser Story auch in unserem Hoheitsgebiet neue Aktualität verliehen. Seither kamen mir die vielen Chodorkowski-Photos hinter Gittern immer wie eine Patek-Philippe-Werbung vor - die nackten Handgelenke des eingesperrten Oligarchen sprachen eine beredte Sprache. Aber eine Patek Philippe schien mir für diese Aktion doch zu groß. Das Chronometer wäre vielleicht noch reingegangen, aber dieses klotzige Armband ...