Kurz: In die denkende Elite des Landes vorzustoßen war mir nicht gelungen. Und natürlich tröstete ich mich wie alle Loser mit dem Gedanken, dass ich dorthin gar nicht wollte.
JEHOVA
Während Baldur die Klärung jeder Frage so gezielt anging, dass sich der Kern der Sache gar nicht verfehlen ließ, besaß Jehova einen anderen Vorzug: Er konnte in wenigen Worten ganze Bedeutungsfelder umreißen, Leuchttürme setzen im schwierigen Labyrinth der Begriffe. Häufig bediente er sich dabei überraschender Vergleiche.
»Wenn du wissen willst, was das ist: die menschliche Kultur«, sagte er einmal, »dann erinnere dich an die Ureinwohner Polynesiens. Dort gibt es Stämme, die die Technik des weißen Mannes anbeten. Insbesondere Flugzeuge, die über den Himmel geflogen kommen mit allerlei schönen und leckeren Dingen an Bord. Cargo-Kult nennt sich dieser Glaube. Die Aborigines bauen rituelle Flughäfen, um damit sozusagen die Coca-Cola vom Himmel zu locken ...«
Mein Kopf funktionierte wieder einmal nach dem Motto »Alles, was nicht mir passiert ist, weiß ich.«
»Nein, das ist Unsinn«, sagte ich. »Das haben die Aborigines den amerikanischen Anthropologen bloß weisgemacht, damit sie schneller wieder gehen. Und dass Aborigines noch andere Wünsche haben könnten, hielten die Anthropologen sowieso nicht für möglich. Nein, der spirituelle Kern des Cargo-Kultes liegt tiefer. Die Bewohner Melanesiens waren von den Heldentaten der Kamikaze-Flieger so beeindruckt, dass sie diese rituellen Flughäfen errichteten, um die Seelen der Piloten zur Wiedergeburt auf ihrer schönen Insel einzuladen -für den Fall, dass es im Yasukuni-Schrein zu eng wird.«
»Interessant«, sagte Jehova. »Das ist mir neu. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. Die Ureinwohner bauen nicht bloß Start- und Landebahnen nach, sie bauen auch Flugzeugreliefs aus Erde, Sand und Stroh, vielleicht, damit die Seelen der Kamikaze eine Behausung haben. Diese Flugzeuge sind mitunter sehr beeindruckend. Sie haben bis zu zehn Turbinen, gebaut aus alten Büchsen und Eimern. Da gibt es Meisterwerke, künstlerisch gesehen. Doch diese Erdflieger fliegen nicht. Das Gleiche gilt für den menschlichen Diskurs. Ein Vampir darf ihn keinesfalls ernst nehmen.«
Ich gab Baldur diese Unterhaltung wieder.
»Soll das heißen, ich lerne hier Flugzeuge aus Sand und Stroh bauen?«, fragte ich.
Baldur warf mir einen flammenden Blick zu.
»Nicht nur das«, sagte er. »Du lernst auch noch, dabei schwul auszusehen. Damit alle denken, dieser Flugzeugbastler scheißt Geld, und dich noch mehr dafür hassen ... He, Rama, hast du schon wieder vergessen, wer du bist? Du bist ein Vampir!«
Noch tagelang gingen mir Jehovas Worte nach, während ich im Internet ein paar Paradebeispiele einschlägiger Diskursverrenkungen studierte, darunter auch noch einmal das, was Papa über den Plebs und die kompetenten Eliten geschrieben hatte. Inzwischen konnte ich beinahe alles verstehen, Verweise, Anspielungen und kulturelle Referenzen inklusive. Und all das konnte noch so geistreich, subtil und gut geschrieben sein, Jehova behielt recht: Diese Flugzeuge waren nicht zum Fliegen bestimmt. Man fand viele kluge Worte darin, doch sie klimperten hohl und penetrant wie die aus dem Staub geklaubten europäischen Münzen in den Halsketten der Kannibalen.
Dies notierte ich in mein Heft:
Der Moskauer Cargo-Diskurs unterscheidet sich vom polynesischen Cargo-Kult dadurch, dass er statt mit Bruchstücken fremder Flugtechnik mit Jargonanleihen in Schnipselform jongliert. Die terminologische Camouflage im Aufsatz eines sogenannten Sachverständigen erfüllt die gleiche Funktion wie die knallorangene Schwimmweste aus einer abgestürzten Boeing, wenn ein afrikanischer Kopfjäger sie trägt: Es ist nicht nur eine Art von Maskierung, es ist Kriegsbemalung. Eine ästhetische Projektion des Cargo-Diskurses ist dabei der Cargo-Glamour, der das nachwachsende Office-Prekariat nötigt, auf Vollwertnahrung zu verzichten, um stattdessen eine teure Business-Uniform zu erwerben.
Als ich Jehova diesen Eintrag stolz präsentierte, tippte er nur den Finger an die Schläfe und sagte: »Rama, du hast das Wichtigste noch nicht verstanden. Du scheinst zu glauben, der Moskauer Cargo-Diskurs stünde dem New Yorker oder Pariser irgendwie nach, und darin läge das Problem. Aber das ist es nicht. Jede menschliche Kultur ist Cargo-Kultur. Die Erdflugzeuge des einen Stammes können nicht besser sein als die des anderen.«
»Wieso können sie das nicht?«
»Weil Erdflugzeuge keiner Vergleichsanalyse standhalten. Sie fliegen nicht, sie haben keine technischen Parameter, die man nebeneinanderhalten könnte. Sie haben nur diese eine magische Funktion. Und die hängt nicht von der Anzahl Blecheimer unter den Flügeln und deren Farbe ab.«
»Aber wenn es, wie Sie sagen, gar nichts anderes als diese Erdflugzeuge gibt, was nehmen die Leute dann als Vorlage?«, fragte ich. »Damit ein Cargo-Kult entsteht, muss doch wenigstens einmal ein richtiges Flugzeug am Himmel vorbeigekommen sein, oder nicht?«
»Nicht am Himmel«, erwiderte Jehova. »Es flog durch den menschlichen Geist. Als Große Fledermaus.«
»Sie meinen die Vampire?«
»Jawohl. Aber dieses Thema zu diskutieren ist vorerst zwecklos. Dafür bist du noch zu ungebildet.«
»Eine Frage noch«, legte ich nach. »Sie sagen, die ganze menschliche Kultur sei ein Cargo-Kult. Was ist es denn, was die Menschen da basteln, wenn keine Erdflugzeuge?«
»Städte.«
»Städte?«
»Na ja. Und alles Übrige.«
Ich versuchte mit Baldur darüber zu reden, doch auch der verweigerte sich der Diskussion.
»Das hat noch Zeit«, sagte er. »Du musst nichts übereilen. Der Erwerb von Wissen setzt eine bestimmte Abfolge voraus. Was wir heute behandeln, wird Fundament sein für das, was du morgen erfährst. Man kann ein Haus nicht vom Dachboden her bauen.«
Dagegen ließ sich nichts sagen.
Noch eine soziale Fertigkeit, die ich mir anzueignen hatte, war die Vampspiritualität. (Jehova sprach auch hier wahlweise von Metrospiritualität, woraus ich schloss, es könnte ungefähr dasselbe sein.) Mein Lehrer definierte sie als »Geltungskonsum im spirituellen Bereich«. In praktischer Hinsicht ging es bei der Vampspiritualität darum, den Zugang zu den alten geistigen Traditionen zu demonstrieren - und zwar dort, wo sie am exklusivsten waren: Photosessions mit dem Dalai Lama gehörten ebenso ins Programm wie dokumentarisch verbriefte Begegnungen mit Sufi-Scheichs und Latino-Schamanen, nächtliche Hubschraubervisiten auf Athos usw.
»Läuft es da etwa genauso?«, war meine missmutige und zugegeben etwas unscharf formulierte Frage.
»Hier wie immer und überall«, bestätigte Jehova. »Sieh doch mal genau hin, was bei der menschlichen Kommunikation vor sich geht. Warum macht ein Mensch den Mund auf?«
Ich zuckte die Achseln. Also gab Jehova die Erläuterung.
»Vor allem will der Mensch seinen Mitmenschen nahebringen, er sei weit prestigeträchtigerer Konsumformen teilhaftig, als diese von ihm glauben. Wie er auch umgekehrt den Anwesenden klarzumachen versucht, dass ihre Konsumformen weit weniger Geltung genießen, als sie in ihrer Naivität zu glauben geneigt sind. Diesem Sinn und Zweck sind alle sozialen Manöver untergeordnet. Ja, es sind einzig diese Fragen, die bei Menschen handfeste Emotionen hervorrufen können.«
»Mir scheint, ich bin in meinem Leben auch schon anderen Menschen begegnet«, sagte ich mit milder Ironie.
Jehova schenkte mir einen langen, sanftmütigen Blick.
»Schau, Rama«, sagte er, »jetzt gerade wieder bist du dabei, mir den Gedanken zu suggerieren, deine Konsumformen wären den meinen an Geltung überlegen, und meine wären, wie man heutzutage sagt, ein Griff ins Klo. Es geht in der Kommunikation von Menschen einzig und allein um Konsum. Von dieser Regung der menschlichen Seele spreche ich. Anderes ist bei Menschen nicht anzutreffen, da kannst du lange suchen. Nur die konkret angesprochene Konsumform wechselt. Mal sind es Dinge, mal Erlebnisse, Kulturtatsachen, Bücher, Konzepte, Geisteszustände und so weiter.«