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Steckst du deinen Fünfer rein in den

Metroautomat,

Folgen dir zwei Herren in Grau. Folgen

äußerst delikat.

Stehst du brav im Gastronom, stehst nach

Wodka an,

Sitzen die zwei Herren in Grau hinterm

Eisschrank an...

hörte man Mamas jugendliche Stimme dazwischenrufen: »Trag das vom Arsch mit Ohren vor! Und Solschenizyn!«

Auch noch deftigere Wörter, die wohlbehütete Kinder in Perestroika-Zeiten ansonsten eher von kichernden Gören auf der Nachbarpritsche des Kindergartenschlafraums beigebracht bekamen, hörte ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Wobei Mama nicht müde wurde zu erläutern, die Verwendung obszönen Vokabulars sei in diesem Kontext von künstlerischer Notwendigkeit diktiert und daher gerechtfertigt. Das Wort Kontext war für mich noch rätselhafter als jene anderen; hinter alledem ahnte ich die düstere, geheimnisvolle Erwachsenenwelt, in die mich The Wind of Change, der aus dem Fernseher geweht kam, hineintreiben wollte.

Die Menschenrechtskassette war etliche Jahre vor meiner Geburt aufgenommen worden; das ließ darauf schließen, dass

Mama sich infolge Heirat (und die wiederum davon gekrönt, dass ich auf die Welt kam) aus dem aktiven Kampf zurückgezogen hatte. Wobei die mütterliche Nähe zur revolutionären Demokratie, die meine Kindheit mit ihrem Wetterleuchten erhellte, vom Sowjetregime in seiner Schwindsucht wohl gar nicht bemerkt worden war.

Vom Bett aus gesehen rechts schmückten zwei Bilder die Wand. Sie waren von gleicher Größe (vierzig Zentimeter breit, fünfzig hoch - meine erste Messung, als ich das Lineal in der ABC-Schützen-Grundausrüstung entdeckte). Das eine stellte einen kleinen Zitronenbaum im Kübel dar, das andere einen ebensolchen Apfelsinenbaum. Eigentlich unterschieden sie sich nur in Farbe und Form der Früchte: gelb und länglich die einen, rund und orange die anderen.

Und direkt über dem Bett hing dieser geflochtene Fächer in Herzform. Er war viel zu groß, um ihn zum Wedeln zu benutzen. In der Einbuchtung zwischen den Herzbuckeln gab es einen runden Griff, weshalb der Fächer einer kleinköpfigen Riesenfledermaus ähnelte. In der Mitte war er rot lackiert.

Ich glaubte einen blutsaugenden Flughund vor mir zu haben (von so etwas hatte ich in der Zeitschrift Rund um den Erdball gelesen), der tagsüber an der Wand schlief und nachts zum Leben erwachte. Das eingesogene Blut schimmerte durch seine Haut wie durch einen Mückenbauch, daher auch der rote Fleck in der Mitte.

Das Blut musste meines sein.

Mir war schon klar, dass in meinen Ängsten Geschichten nachwirkten, wie ich sie zur Genüge in den Ferienlagern vernommen hatte - sie wurden von Jahrgang zu Jahrgang unverändert zum Besten gegeben. Trotzdem kam es regelmäßig zu Albträumen, aus denen ich in kaltem Schweiß erwachte. Es kam so weit, dass ich mich vor der Dunkelheit fürchtete, denn die Anwesenheit des sich an der Wand rekelnden Flughundes war physisch zu spüren, und damit er wieder zum Palmblattfächer wurde, musste ich das Licht einschalten. Da alle Beschwerden bei der Mutter nicht fruchteten, beschränkte ich mich darauf, den Fächer heimlich mit Sekundenkleber an der Tapete festzukleben. Damit war die Angst gebannt.

Meinen ersten Weltentwurf brachte ich gleichfalls aus dem Ferienlager mit nach Hause. Dort hatte ich eine erstaunliche Wandmalerei gesehen: Eine flache Erdscheibe lagerte auf drei Walfischen in einem fahlblauen Ozean. Dieser Erde entwuchsen Bäume, Telegrafenmasten ragten hervor, sogar eine lustige rote Straßenbahn rollte durch eine Ansammlung gleichförmiger weißer Wohnblocks. UdSSR war auf den Rand der Erdscheibe geschrieben. Dass ich in diesem Land geboren war, wusste ich, und auch, dass es bald darauf zerbröselt war. Schwer zu begreifen! Häuser, Bäume und Straßenbahnen - alles noch da, nur der Grund, auf dem sie sich befunden hatten, fehlte ... Doch war ich da noch klein genug, dass mein Verstand sich mit diesem Paradoxon genauso zufriedengab wie mit hunderten anderer. Zumal mir bereits schwante, dass die sowjetische Katastrophe ihre wirtschaftliche Ursache hatte: Wenn man zwei Ziviloffiziere zu etwas beorderte, was in normalen Gesellschaften Sozialhilfeempfänger unter sich ausmachen, konnte das kein gutes Ende nehmen.

Aber dies waren nur die blassen Schemen der Kindheit.

Ein richtiges Bewusstsein meiner selbst hatte ich erst von dem Moment an, da die Kindheit zu Ende war. Es geschah, als ich im Fernsehen einen alten Trickfilm wiedersah. Eine Kolonne glücklicher kurzbeiniger Sowjet-Comichelden marschierte da über den Bildschirm. Fröhlich die Arme schwenkend, sangen sie:

Da kam die grüne Kröte

und bracht' den Schreck in Nöte

und bracht' den Schreck in Nöte

Und fraß den Heuschreck auf. Das hätt' er unter Bäumen

sich niemals lassen träumen,

sich niemals lassen träumen,

solch traurigen Verlauf!...

Ich wusste sofort: Die fröhlichen Kobolde erwiesen der Sowjetunion aus ihrer Sonnenstadt, wohin die Menschen den Weg nun doch nicht gefunden hatten, die letzte Ehre.

Beim Anblick der Koboldkolonne brach ich in Tränen aus. Nicht dass die UdSSR nostalgische Gefühle in mir geweckt hätte - ich hatte ja gar keine Erinnerung an sie. Es lag an den großen Glockenblumen, die längs ihres Weges standen und sie deutlich überragten. Diese Riesenblumen riefen mir etwas ins Gedächtnis, etwas Einfaches und Entscheidendes, das ich schon vergessen hatte.

Ich begriff, dass diese freundliche Kinderwelt, wo einem alles so riesig vorkam wie diese Blumen und wo, genau wie in dem Trickfilm, an glücklichen, sonnigen Wegen kein Mangel gewesen war - dass sie unwiderruflich hinter mir lag. Sie war irgendwo auf der Wiese geblieben, wo der Heuschreck gesessen hatte. Und es war klar, künftig würde ich es mit der Kröte zu tun kriegen - und das von Mal zu Mal konkreter.

Sie hatte tatsächlich einen grünlichen Bauch, der Rücken war schwarz, und an jeder Ecke hatte sie ihre kleine gepanzerte Botschaft stehen: eine sogenannte Wechselstelle. Die Erwachsenen glaubten an nichts anderes mehr, doch ich sah schon kommen, dass auch die Kröte sie irgendwann hinters Licht führen würde, und dann wäre es für den Heuschreck zu spät.

Außer diesen Männlein im Film schien es keiner für nötig zu erachten, sich von dem ungereimten Land meiner Geburt zu verabschieden. Selbst die drei Walfische, die es getragen hatten, taten so, als hätten sie nichts damit zu tun, und eröffneten ein Möbelgeschäft. (Ihre Reklame lief öfter im Fernsehen. Zwei Männer in weißen Anzügen kamen eine endlose Treppe heruntergetänzelt und trällerten: »Drei Wale - erste Wahl!«. Der dritte, durfte man annehmen, war im Außendienst; an der Firma sei der FSB mit 100 Prozent Kapital beteiligt, behauptete Mama, die jedesmal die Stirn kraus zog, wenn der Möbelclip gezeigt wurde; wahrscheinlich erkannte sie in den Anzugträgern ihre »zwei Herren in Grau« von damals wieder und nahm ihnen übel, dass sie sie so einfach vergessen und die Karriereleiter erklommen hatten.)

Über die Geschichte meiner Familie wusste ich nichts. Aber ein paar Gegenstände in meiner Umgebung hatten eine unergründlich düstere Aura.

Da war zum einen dieser altmodische Kupferstich. Zu sehen war eine Löwenfrau mit lasziv zurückgeworfenem Kopf, entblößter Brust und mächtigen Krallentatzen. Die Graphik hing im Flur unter einer elektrischen Kerze, die wie ein Heiligenlämpchen aufgemacht war. Sie gab nur funzliges Licht, wodurch das Bild an Magie und Unheimlichkeit gewann.