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»Das ist deine Personalakte. Da werden noch ein paar andere Einblick nehmen. Unsere Vorgesetzten!«

Dabei schaute er vielsagend zur Decke.

»Jetzt noch zu ein paar lebenstechnischen Dingen. Im Sekretär liegt Geld, das könntest du brauchen. Essen wird vom Restaurant unten gebracht. Die Haushaltshilfe kommt zweimal die Woche putzen. Wenn etwas fehlt, dann kauf es.«

»Soll ich mit der Visage auf die Straße gehen?«, fragte ich, auf mein Spiegelbild deutend.

»Das vergeht schnell. Ich kümmere mich darum, dass dir das Nötigste schon mal gebracht wird. Schuhe, Klamotten und so.«

»Willst du die Größe wissen?«

»Weiß ich doch!«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.

ENLIL

Als Kind war ich an Wundern interessiert. Wahrscheinlich hätte ich nichts dagegen gehabt, ein fliegender tibetischer Yogi zu sein wie Milarepa oder ein Zauberlehrling wie Carlos Castaneda und Harry Potter. Auch mit etwas einfacheren Missionen hätte ich mich einverstanden erklärt: Kosmosheld werden, einen neuen Planeten entdecken oder einen von diesen großen Romanen verfassen, die das menschliche Herz erschüttern und die Kritiker zum Zähneknirschen veranlassen und zum Dreckschleudern vom Grunde ihrer Gruben.

Aber Vampir? Blutsauger? ...

Nachts träumte ich schlecht. Ich sah meine Bekannten, wie sie sich grämten über mein Malheur und bedauerten, dass sie mir nicht hatten helfen können. Gegen Morgen träumte ich von meiner Mutter. Sie war traurig und zärtlich zugleich - so wie ich sie im wirklichen Leben seit Langem nicht mehr erlebt hatte. »Romännchen, Liebes!«, flüsterte sie, ein Taschentuch mit dem Wappen derer von Storkwinkel vor ihre Augen gepresst, »meine Seele hing über deinem Bettchen und hütete deinen Schlaf! Aber dann hast du mich mit Sekundenkleber angeklebt, da konnte ich nichts mehr für dich tun!«

Ich hätte nicht gewusst, was antworten, aber die Zunge sprang mir bei, die diesen Träumen genauso aufmerksam folgte wie ich (und sowieso zwischen Traum und Wirklichkeit wenig Unterschiede machte):

»Tut mir leid, aber Sie sind gar nicht seine Mama«, sagte sie mit meiner Stimme, »seine Mama hätte ihm vorgehalten, dass er den Kleber schnüffelt.«

Danach wurde ich wach.

Ich lag in einem riesigen Bett unter reich besticktem braungoldenem Himmel. Gardinen von gleichem Braungold ließen kaum Licht herein; die Einrichtung des Zimmers war, was man heutzutage gothic nennt. Auf einem Schemel neben dem Bett stand ein Telefonapparat mit schwarzem Ebonitgummigehäuse, den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nachempfunden.

Ich erhob mich und schlurfte ins Bad.

Als ich mich im Spiegel sah, fuhr ich erschrocken zurück. Um die Augen waren schwarzlila Blutergüsse, die das halbe Gesicht einnahmen, so wie man es von Gehirnerschütterungen kennt. Sie waren gestern noch nicht da gewesen und sahen scheußlich aus. Aber alles Übrige ging schon wieder. Das Blut hatte ich noch am Vorabend abgewaschen; am Hals unterhalb des Jochbeins war nur ein kleines schwarz verkrustetes Löchlein geblieben wie von einem durch die Haut gedrungenen Nagel. Es blutete nicht, tat auch nicht weh -man musste sich wundern, dass so eine kleine Wunde einen derart glühenden Schmerz verursacht haben konnte.

Mein Mund sah aus wie früher - nur dass der leicht angeschwollene Gaumen einen dicken orangenen Belag trug. Die Gegend, wo er sich ausbreitete, fühlte sich etwas taub an. In den frischen Zahnlücken verspürte ich ein dumpfes Ziehen - und o Wunder, in den schwarzen Kratern waren schon die zuckerweißen Spitzen der neuen Zähne zu sehen -sie wuchsen in unglaublichem Tempo.

Die Kugel in meinem Inneren war noch da, doch sie beunruhigte mich nicht mehr. Über Nacht hatte ich mich schon beinahe daran gewöhnt. Eine ergebene Entrücktheit hatte sich meiner bemächtigt - so als wäre das alles nicht mir, sondern einem anderen passiert, den ich aus einer vierten Dimension beobachtete. Die daraus resultierende Unverbindlichkeit erschien angenehm, versprach eine zuvor nicht gekannte Freiheit... aber eigentlich war ich noch zu schwach, um Selbstanalyse zu betreiben.

Nach dem Duschen nahm ich eine Quartierbesichtigung vor. Die Wohnung war frappierend in den Ausmaßen und ihrem düsteren Luxus. Außer dem Schlaf- und dem Archivzimmer gab es einen Kinoraum mit einer Sammlung von Masken an den Wänden (venezianische Masken, afrikanische, chinesische und solche, die ich nicht zuordnen konnte) sowie eine Art Wohnzimmer mit Kamin und Sitzgruppe und einem altmodischen Radioempfänger im Mahagonigehäuse an prominentester Stelle.

Dann gab es noch einen Raum, dessen Bestimmung mir nicht aufging - kein richtiges Zimmer, eher eine größere Abstellkammer, deren Fußboden mit dicken, weichen Kissen ausgelegt war. Die Wände mit schwarzem Samt tapeziert, darauf Sonne, Mond und Sterne mit menschlichen Gesichtern; sie schauten streng und abweisend. In der Mitte der Kammer hing an einer Kette eine Vorrichtung von der Decke, die aussah wie ein riesiger silberner Steigbügel - eine gebogene Metallstange mit Querstrebe. Aus der Wand ragte ein metallener Knauf; wenn man daran drehte, fuhr der Bügel über den Kissen hoch oder runter. Ich hatte keine Vorstellung, wozu dieses Gerät gut sein konnte - wenn man nicht einen großen Papagei daraufsetzen wollte, der der Einsamkeit frönte ... Ferner waren über die Wände des Raumes kleine weiße Kästchen verteilt, die Rauchmelder hätten sein können.

Das Archivzimmer, in dem Brahma sich die Kugel gegeben hatte, kannte ich bereits. Dadurch, dass ich schon einige Zeit darin verbracht hatte, sah ich mich zu einer eingehenderen Untersuchung berechtigt.

Ganz offenbar war dies das Arbeitszimmer des vormaligen Hausherrn gewesen - obwohl sich schwerlich sagen ließ, worin seine Arbeit bestanden haben mochte. Ich zog aufs Geratewohl ein paar Schübe in der Archivwand auf und fand darin Plastikgestelle mit reihenweise Reagenzgläschen vor, alle schwarz verstöpselt. In jedem befanden sich zwei, drei Milliliter einer klaren Flüssigkeit.

Eine Ahnung, was das sein konnte, lag nicht fern. Mitra hatte mir die Kostprobe Windows Chrrr aus einem ganz ähnlichen Gefäß kredenzt. Augenscheinlich handelte es sich hier um eine Vampirbibliothek. Die Gläschen waren mit Nummern und Buchstaben versehen. Auch an den Vorderseiten der Kästen gab es aus mehreren Buchstaben und Ziffern bestehende Signaturen.

Die beiden Aktgemälde an der Wand waren spezieller Art. Auf dem einen, in einem Sessel sitzend, ein nacktes Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Unvorteilhafterweise hatte sie Nabokovs Glatzkopf auf ihren zarten Schultern sitzen, die Nahtstelle war von einem Halstuch mit streng bürgerlichem Tüpfelmuster verdeckt. Lolita war der Titel des Bildes.

Das andere zeigte ein ungefähr gleiches Mädchen, nur mit sehr viel hellerer Haut und fehlenden Brustwarzen. Hier sah Nabokov schon ganz alt und hinfällig aus, und das Tarnhalstuch über der Naht hatte ein bizarres, poppiges Muster, mit Sternschnuppen, Kickerhähnen und geographischen Symbolen. Dieses Bild hieß Ada.

Gewisse anatomische Details der kindlichen Körper waren ausgeführt, doch man schaute nicht gern genauer hin, zumal der durchdringend-verächtliche Blick der beiden Nabokovs den Betrachter das Fürchten lehrte. Diesen Effekt hatte der unbekannte Künstler meisterlich hinbekommen.

Plötzlich meinte ich eine leise Zugluft im Nacken zu spüren.

»Vladimir Nabokov als Wille und Vorstellung«, sagte eine sonore Bassstimme in meinem Rücken.

Ich fuhr erschrocken herum. Hinter mir in einem Meter Entfernung stand ein kleiner dicker Mann im schwarzen Jackett über dunklem Rollkragenpullover. Dem Anschein nach in den Fünfzigern; buschige Brauen, Hakennase, hohe Stirn. Seine Augen waren von einer verspiegelten Sonnenbrille verdeckt.