»Verstehst du, was der Künstler uns damit sagen wollte?«, fragte er.
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Nabokovs Romane Lolita und Ada sind Varianten einer Dreierkiste der Marke Wladimir-sei-bei-uns. Darum geht es.«
Mein Blick wanderte von Lolita zu Ada, auf deren milchweißer Haut ich eine stattliche Anzahl Fliegenpunkte bemerkte.
»Lolita«, wollte ich wissen, »kommt das eigentlich von LOL?«
»Wie bitte?«
»Laughed out loud«, erläuterte ich. »Eine Floskel aus dem Netz. Wir sagen auch Lautes Online-Lachen dazu oder einfach *lach*. Demzufolge wäre Lolita ein Mädchen, das viel und gerne lacht.«
»Ach ja«, seufzte der Fremde, »andere Zeiten, andere Kulturen. Manchmal fühlt man sich schon wie ein Museumsstück ... Hast du Nabokov gelesen?«
»Klar«, log ich.
»Und wie fandest du es?«
»Nachtmahr einer grauen Stute«, sagte ich lässig.
Das war eine Redewendung meines alten Großvaters gewesen, wenn ihm einer Blödsinn erzählte. Mit derlei Poesie setzt man sich als Rezensent nicht gleich in die Nesseln, soviel wusste ich.
»Oho, das trifft den Nagel auf den Kopf!«, freute sich der Fremde. »Nicht umsonst heißt die Stute auf Englisch mare. Das erwähnt unser verehrter Autor sogar an einer Stelle. Aber wieso grau? Ach so! Verstehe, verstehe ... Schlimmer als alle bösen Träume ist die Schlaflosigkeit! Wie sagt doch der Meister: Insomnia, your stare is dull and ashen ... Aschgrau, ließe sich sagen ...«
Mir fiel ein, dass die Hintertür die ganze Zeit offen gestanden hatte. Offenbar war hier ein Geisteskranker eingedrungen.
»Die ganze russische Geschichte stürzt ins Loch dieses Albtraums ... Und vor allem die Blitzartigkeit des Übergangs von der Mahr zur Materialisierung. Das graue Stütchen ... Mit einem schlechten Traum fing es an, den Zuckungen eines Pferdehirns - und schon ritt Budjonny über die Hänge der Halbinsel Krim und köpfte mit der Reitgerte die Kletten ...«
Sein Blick verlor sich in der Ferne.
Vielleicht doch kein Geisteskranker, dachte ich.
»Ich verstand noch nicht ganz«, fragte ich höflich, »weshalb die Romane des Schriftstellers Nabokov eine Dreierkiste sind?«
»Weil er es nicht lassen kann, sich selbst zwischen die Liebespaare in seinen Büchern zu legen. Und hin und wieder eine subtile Replik fallen lässt, mit der er auf sich aufmerksam macht. Was wiederum nicht sehr leserfreundlich ist, soweit es sich nicht um gerontophile Leserschaft handelt ... Weißt du übrigens, welches erotische Buch ich am liebsten habe?«
Dieser Fremde hielt mit seinen Gedanken erstaunlich wenig hinterm Berg.
»Nein«, sagte ich.
»Nimmerklugs Reise zum Mond. Gerade weil dort kein schlüpfriges Wort fällt, ist dieses Kinderbuch der erotischste Text des zwanzigsten Jahrhunderts. Du liest es und stellst dir vor, was diese Knirpse, Schraubfix, Rennefix, Nudeldick und wie sie alle heißen, in ihrer Rakete so anstellen auf dem langen Weg zum Mond ...«
Nein, dieser Mann ist nicht geisteskrank, der ist im Gegenteil ganz vernünftig, stellte ich fest.
»Ja, darüber hab ich als Kind auch nachgedacht«, sagte ich. »Und wer sind Sie?«
»Ich heiße Enlil Maratowitsch.«
»Sie haben mich ganz schön erschreckt.«
»Du hast da eine feuchte Stelle im Nacken, willst du es dir vielleicht abwischen?«, sagte er und hielt mir ein Papiertaschentuch hin.
Ich spürte nichts, tat aber, wie geheißen. Auf dem Taschentuch zeichneten sich zwei kopekengroße Blutflecke ab. Sofort war mir klar, warum er von den Knirpsen angefangen hatte.
»Aha. Sie also auch ...«
»Andere Leute verkehren hier nicht.«
»Und wer sind Sie genau?«
»In der Menschenwelt würde ich wohl als Chef gelten ... Bei den Vampiren heißt das einfach Koordinator.«
»Ah ja«, sagte ich. »Und ich dachte schon, Sie wären nicht bei Trost! Schlaflosigkeit, Nabokov auf dem Mond und so weiter. Ist das Ihre spezielle Ablenkungsmethode? Den Biss zu überspielen?«
Enlil Maratowitsch lächelte schuldbewusst.
»Wie fühlst du dich?«
»Geht so.«
»Aussehen tust du jedenfalls bescheiden, das darf man wohl sagen. Aber so pflegt es immer zu sein. Ich hab dir eine Salbe mitgebracht, damit schmierst du die blauen Flecken über Nacht ein. Dann sind sie morgen weg. Und hier sind außerdem Kalziumtabletten. Davon nimmst du fünfzehn pro Tag. Das ist gut für die Zähne.«
»Danke.«
»Ich sehe, du bist nicht gerade erbaut von dem, was dir zugestoßen ist. Du brauchst mir nichts vorzumachen, ich weiß es. Das ist normal. Und sogar erfreulich. Denn es bedeutet, dass du ein guter Mensch bist.«
»Müssen Vampire etwa gute Menschen sein?«
Enlil Maratowitschs Brauen schnellten in die Höhe.
»Aber natürlich!«, rief er. »Was denn sonst?«
»Na, ich dachte nur ...«, hob ich zur Erklärung an, sprach aber nicht weiter.
Sagen wollte ich, dass man bestimmt kein guter Mensch sein muss, um anderen Leuten das Blut auszusaugen. Eher das Gegenteil. Aber das hätte wohl unhöflich geklungen.
»Rama«, sagte Enlil Maratowitsch, »du hast keine Ahnung, wer wir in Wirklichkeit sind. Alles, was du über Vampire weißt, ist erstunken und erlogen. Ich will dir was zeigen. Komm mit.«
Ich folgte ihm in das Zimmer mit dem Kamin und den Sesseln. Enlil trat vor den Kamin hin und wies auf ein darüberhängendes Bild. Es war die Nahaufnahme einer Fledermaus in Schwarzweiß. Schwarze Knopfaugen, gespitzte Hundeohren und eine runzlige Nase, die etwas von einem Schweinsrüssel hatte. Eine Mischung aus Ferkel und Hund, so konnte man es sehen.
»Was ist das?«
»Das ist eine Vampirfledermaus. Desmodus Rotundus. Sie kommt in Amerika beiderseits des Äquators vor. Ernährt sich von der roten Flüssigkeit größerer Säuger. Besiedelt alte Höhlen in Großfamilie.«
»Und warum zeigen Sie die mir?«
Enlil Maratowitsch ließ sich in einem Sessel nieder. Lud mich mit einer Geste ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Wenn man sich die Märchen so anhört, die in Mittelamerika über dieses winzige Wesen erzählt werden«, begann er, »dann könnte man glauben, es gäbe kein grässlicheres Geschöpf auf der Welt. Diese Fledermaus sei eine Höllenbrut, heißt es da. Und dass sie Menschengestalt annehmen könne, um ihr Opfer ins Dickicht zu locken. In Schwärmen pflege sie über diejenigen herzufallen, die sich im Wald verlaufen, beiße sie zu Tode. Und dergleichen Unsinn mehr. Wenn die Menschen eine Höhle finden, in der Vampirfledermäuse siedeln, räuchern sie sie aus. Oder sprengen sie gleich mit Dynamit in die Luft.«
Er schaute mich an, als erwartete er irgendeine Erwiderung. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
»Aus unerfindlichem Grunde meinen die Menschen, das Gute gepachtet zu haben«, fuhr er fort. »Und die Vampire gelten als die Ausgeburt des Bösen schlechthin. Betrachten wir aber doch einmal die Tatsachen. Nenne mir einen einzigen Grund, weshalb die Menschen besser sein sollten als die Vampirfledermäuse!«
»Vielleicht weil sie einander helfen?«, hatte ich einen Vorschlag
»Das kommt bei Menschen äußerst selten vor. Vampirfledermäuse hingegen helfen einander unentwegt. Das Futter, das sie nach Hause bringen, wird unter allen aufgeteilt. Sonst noch was?«
Mehr fiel mir erst einmal nicht ein.
»Der Mensch«, sagte Enlil Maratowitsch, »ist der grausamste und sinnloseste Mörder auf Erden. Keinem Lebewesen in seiner Nähe hat er je Gutes getan. Und was das Schlechte angeht... Soll ich anfangen aufzuzählen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dieses winzige Tierchen aber, das der Mensch zum Inbegriff seiner geheimen Ängste gemacht hat - es tötet gar niemanden! Fügt nicht einmal ernsthaften Schaden zu. Akkurat ritzt die Vampirfledermaus mit den Schneidezähnen die Haut des Wirtes und trinkt ihre zwei Milliliter, nicht mehr und nicht weniger. Was kann das, sagen wir, einem Stier oder einem Pferd schon anhaben? Oder auch einem Menschen? So ein Aderlass gilt vom medizinischen Standpunkt aus als nützlich. In der Literatur ist zum Beispiel ein Fall beschrieben, wo eine Vampirfledermaus einem fiebernden katholischen Mönch das Leben gerettet hat. Wohingegen«, er hob belehrend den Zeigefinger, »kein einziger Fall überliefert ist, in dem ein katholischer Mönch einer fiebernden Fledermaus beigesprungen wäre ...«