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»Amen«, sagte Jacopo Belbo.

Zu solch schwindelnden Höhen trieb ihn Diotallevi schon damals, und ich hätte es einkalkulieren müssen. Wie oft hatte ich Belbo abends nach Dienstschluss über Programmen brüten sehen, die ihm erlauben sollten, Diotallevis Berechnungen zu verifizieren, um zu beweisen, dass wenigstens sein Abulafia ihm die Wahrheit in ein paar Sekunden sagte, ohne langes Geschreibe per Hand auf vergilbtem Pergament, mit vorsintflutlichen Zahlensystemen, die womöglich noch nicht mal die Null kannten. Vergebens, auch Abu antwortete, soweit er antworten konnte, stets nur mit exponentiellen Zahlen, und Belbo gelang es nicht, Diotallevi mit einem Bildschirm zu demütigen, der sich mit Nullen ad infinitum füllte, als blasse sichtbare Imitation des Wucherns der kombinatorischen Universen und der Explosion aller möglichen Welten ...

Nun aber, nach allem, was inzwischen geschehen war, und mit der Rosenkreuzer-Allegorie vor Augen, nun war Belbo bei seiner Suche nach einem Passwort bestimmt wieder auf jene Exerzitien mit dem Namen Gottes verfallen. Aber er hätte mit Zahlen wie sechsunddreißig oder hundertzwanzig spielen müssen, wenn es denn stimmte, wie ich annahm, dass er von diesen Zahlen besessen war. Also konnte er nicht die vier hebräischen Lettern kombiniert haben, da ja, wie er wusste, vier Steine nur vierundzwanzig Häuser erbauen.

Er hätte allerdings mit der italienischen Transkription IAHVEH spielen können, die auch zwei Vokale enthält. Mit sechs Buchstaben standen ihm siebenhundertzwanzig Permutationen zur Verfügung. Er hätte die sechsunddreißigste oder die hundertzwanzigste nehmen können.

Ich war gegen elf in die Wohnung gekommen, jetzt war es eins. Ich musste ein Computerprogramm für Anagramme mit sechs Buchstaben schreiben, wozu es genügte, das bereits vorhandene Programm für vier zu erweitern.

Erst mal brauchte ich ein bisschen frische Luft. Ich ging auf die Straße hinunter, kaufte mir etwas zu essen und eine Flasche Whisky.

Kaum wieder oben, ließ ich die Sandwiches in einer Ecke, um gleich zum Whisky überzugehen, schob die Systemdiskette für Basic ein und schrieb das Programm für sechs Buchstaben — mit den üblichen Fehlern, ich brauchte gut eine halbe Stunde, doch gegen halb drei lief es endlich, und über den Bildschirm flimmerten vor meinen Augen die siebenhundertzwanzig Namen Gottes.

Ich zog die Bögen aus dem Drucker, hielt sie hoch und überflog sie, ohne sie abzutrennen, als sähe ich die originale Torah-Rolle durch.

Ich probierte den sechsunddreißigsten Namen. Totale Finsternis. Ein letzter Schluck Whisky, dann tippte ich mit zögernden Fingern den hundertzwanzigsten Namen ein. Nichts.

Mir war sterbenselend zumute. Aber ich war nun Jacopo Belbo, und Jacopo Belbo musste so gedacht haben, wie ich nun dachte. Mir musste ein Fehler unterlaufen sein, ein idiotischer Fehler, etwas ganz Dummes. Ich war einen Schritt von der Lösung entfernt — vielleicht hatte Belbo aus Gründen, die mir entgingen, von unten nach oben gezählt?

Casaubon, du Trottel, sagte ich mir. Natürlich, von unten nach oben! Oder von rechts nach links. Belbo hatte den Namen Gottes in lateinischer Schrift eingegeben, mit Vokalen, klar, aber weil das Wort ein hebräisches war, hatte er es von rechts nach links geschrieben. Sein Input war nicht IAHVEH gewesen, sondern — wie hatte ich das übersehen können? — HEVHAI. Und natürlich hatte sich dadurch die Ordnung der Permutationen verkehrt.

Also musste ich von rechts unten an zählen. Ich probierte erneut beide Namen. Wieder nichts.

Es war alles falsch gewesen. Ich hatte mich in eine elegante, aber falsche Hypothese verbissen. Passiert den größten Wissenschaftlern.

Nein, nicht nur den größten. Allen. Hatten wir nicht gerade erst vorigen Monat bemerkt, dass in letzter Zeit mindestens drei Romane erschienen waren, deren Protagonisten den Namen Gottes mit dem Computer suchten? Und schließlich, wer ein Passwort wählt, nimmt etwas, das er sich leicht merken kann, das ihm quasi spontan in die Finger kommt. Man stelle sich vor: IHVHEA! Er hätte das Notarikon mit der Temurah kombinieren müssen, er hätte, um sich das Wort zu merken, ein Akrostichon erfinden müssen, so etwas wie, was weiß ich — Imelda, Ha, Verruchte, Hast Eginhard Angezeigt!

Und dann, wieso eigentlich sollte Belbo in Diotallevis kabbalistischen Termini denken? Er war besessen vom Großen Plan, und in den Großen Plan hatten wir massenhaft andere Dinge mit reingemixt, die Rosenkreuzer, die Synarchie, die Homunculi, das Pendel, den Turm, die Druiden, die Ennoia...

Die Ennoia... Unwillkürlich fiel mir Lorenza Pellegrini ein. Ich streckte die Hand aus und drehte das Foto um, das ich aus meinem Blickfeld verbannt hatte. Ein unangenehmer Gedanke regte sich in mir, den ich zu verdrängen suchte, die Erinnerung an jenen Abend damals in Piemont... Ich zog das Foto heran und las die Widmung: »Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Geehrte und die Gehasste. Ich bin die Heilige und die Hure. Sophia.«

Musste nach dem Fest bei Riccardo gewesen sein. Sophia, sechs Buchstaben. Ja, und wieso eigentlich mussten sie erst anagrammatisch umgestellt werden? Ich war es, der verdreht dachte. Belbo liebte Lorenza, er liebte sie, weil sie war, wie sie war, und sie war Sophia — und zu denken, dass sie in diesem Moment, wer weiß... Nein, andersrum, Belbo dachte verdreht. Mir kamen die Worte Diotallevis in den Sinn: »In der zweiten Sefirah verwandelt sich das dunkle Aleph in das leuchtende Aleph. Aus dem Finsteren Punkt entspringen die Lettern der Torah, der Leib sind die Konsonanten, der Hauch die Vokale, und zusammen begleiten sie den Gesang des Frommen. Wenn die Melodie der Zeichen sich bewegt, bewegen sich mit ihr die Konsonanten und die Vokale. Daraus entsteht Chochmah, die Weisheit, das Wissen, die Uridee, in welcher alles enthalten ist wie in einem Schrein, bereit, sich zu entfalten in der Schöpfung. In Chochmah ist enthalten das Wesen all dessen, was folgen wird... «