Vorgestern Abend im Periskop hatte ich noch keinen Beweis für die Wahrheit dessen, was mir der Drucker enthüllt hatte. Ich konnte mich noch in den Zweifel retten. Um Mitternacht würde ich vielleicht herausfinden, dass ich nach Paris gekommen war und mich wie ein Dieb in einem harmlosen Technikmuseum versteckt hatte, bloß weil ich ahnungslos in eine für Touristen organisierte Macumba geraten war und mich hatte einlullen lassen vom hypnotisierenden Nebel der Perfumadores und vom Rhythmus der Pontos ...
Um das Mosaik zusammenzusetzen, hatte es mein Gedächtnis abwechselnd mit der Ernüchterung, dem Mitleid und dem Argwohn probiert, und jenes geistige Klima, jenes Schwanken zwischen onirischer Illusion und Vorahnung einer Falle wünschte ich mir auch jetzt, während ich mit viel klarerem Kopf über all das nachdenke, was ich vorgestern Abend gedacht hatte, als ich mir klarzumachen versuchte, was ich da hastig am Vortag gelesen hatte, nachts in Belbos Wohnung und noch am selben Morgen am Flughafen und auf dem Flug nach Paris.
Wie unverantwortlich waren wir gewesen, Belbo, Diotallevi und ich, als wir daran gingen, die Welt neuzuschreiben oder — wie Diotallevi gesagt hätte — diejenigen Teile des Heiligen Buches aufzudecken, die mit weißem Feuer eingraviert waren zwischen den Zeilen der schwarzen Lettern, die gleich schwarzen Insekten die Torah bevölkerten und zu verdeutlichen schienen!
Nun bin ich, hier endlich — so hoffe ich — zur heiterer Ruhe und zum Amor Fati gelangt, bereit zur Reproduktion der Geschichte, die ich vor zwei Tagen voller Unruhe — und in der Hoffnung, dass sie falsch sei — im Periskop rekonstruierte, nachdem ich sie weitere zwei Tage vorher in Belbos Wohnung gelesen und sie, zum Teil unbewusst, in den letzten zwölf Jahren erlebt hatte, zwischen dem Whisky bei Pilade und dem Staub im Verlag Garamond
3. Binah
7
Erwartet euch nicht zu viel vom Weltuntergang.
Stanislaw Jerzy Lee, Aforyzmy. Frazki, Krakow, Wydawnictwo Literackie, 1977 (»Unfrisierte Gedanken«)
Zwei Jahre nach Achtundsechzig das Studium zu beginnen ist ungefähr so, wie 1793 in die Akademie von Saint-Cyr aufgenommen zu werden. Man kommt sich vor wie im falschen Jahr geboren. Andererseits überzeugte mich später Jacopo Belbo, der mindestens fünfzehn Jahre älter als ich war, dass jede Generation diesen Eindruck hat. Man wird immer unter dem falschen Zeichen geboren, und mit Würde auf der Welt sein heißt Tag für Tag sein Horoskop korrigieren.
Ich glaube, wir werden das, was unsere Väter uns in den toten Zeiten gelehrt haben, während sie nicht daran dachten, uns zu erziehen. Man formt sich an Abfällen der Weisheit. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich, dass meine Eltern mir ein bestimmtes Wochenblatt abonnierten, das die Meisterwerke der Literatur in ComicForm präsentierte. Nicht aus Knausrigkeit, eher aus Argwohn gegenüber Comic Strips versuchte mein Vater, sich zu drücken. »Das Ziel dieser Zeitschrift ist«, erklärte ich daraufhin feierlich, den Werbespruch der Serie zitierend, denn ich war ein pfiffiger und eloquenter Knabe, »auf unterhaltsame Weise zu erziehen.« Mein Vater erwiderte, ohne die Augen von seiner Zeitung zu heben: »Das Ziel deiner Zeitung ist das Ziel aller Zeitungen, nämlich so viele Exemplare wie möglich zu verkaufen.«
An jenem Tag begann ich, ungläubig zu werden.
Will sagen, es reute mich, gläubig gewesen zu sein. Ich hatte mich von einer Passion des Geistes verführen lassen. Das ist Gläubigkeit.
Nicht dass der Ungläubige an nichts glauben dürfte. Er glaubt nur nicht an alles. Er glaubt jeweils an eine Sache und an eine zweite nur, wenn sie sich irgendwie aus der ersten ergibt. Er geht kurzsichtig vor, methodisch, ohne Horizonte zu riskieren. Von zwei Sachen, die nicht zusammenpassen, alle beide zu glauben, mit der Idee im Kopf, es gebe irgendwo noch eine dritte, die sie vereine — das ist Gläubigkeit
Ungläubigkeit schließt nicht Neugier aus, sie ermuntert sie. Misstrauisch gegenüber Ideenketten, liebte ich von den Ideen die Polyphonie. Es genügt, nicht daran zu glauben, und zwei Ideen — die beide falsch sind — können zusammen ein gutes Intervall erzeugen oder einen diabolus in musica. Ich respektierte nicht die Ideen, auf die andere ihr Leben verwetteten, aber zwei oder drei Ideen, die ich nicht respektierte, konnten eine Melodie ergeben. Oder einen Rhythmus, am besten im Jazz.
Später sollte mir Lia sagen: »Du lebst von Oberflächen. Wenn du tief scheinst, dann weil du viele davon verklammerst und so den Anschein eines Festkörpers erzeugst — eines Festkörpers, der, wenn er fest wäre, nicht stehen könnte.«
»Willst du damit sagen, ich wäre oberflächlich?«
»Nein«, hatte sie geantwortet. »Was die anderen Tiefe nennen, ist nur ein Tesserakt, ein vierdimensionaler Kubus. Du trittst auf der einen Seite hinein, auf der andern hinaus, und befindest dich in einer Welt die nicht mit deiner Welt koexistieren kann.«
(Lia, ich weiß nicht, ob ich dich je wiedersehen werde, jetzt da sie auf der falschen Seite eingetreten sind und deine Welt überfallen haben, und das durch meine Schuld: ich habe sie glauben lassen, dass da Abgründe wären, wie sie es in ihrer Schwäche wollten.)
Was dachte ich wirklich vor fünfzehn Jahren? Im Bewusstsein meiner Ungläubigkeit fühlte ich mich schuldig unter so vielen Gläubigen. Da ich fühlte, dass sie im Recht waren, beschloss ich zu glauben, so wie man ein Aspirin nimmt. Es tut nicht weh, und man fühlt sich besser.
Ich fand mich mitten in der Revolution, oder jedenfalls in der verblüffendsten Simulation der Revolution, die es je gegeben hat, und suchte nach einem ehrenhaften Glauben. Ich fand es ehrenhaft, an den Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen, ich schrie im Chor mit den andern: »Faschisten, Bürgerschweine, bald machen wir euch Beine!«, ich warf keine Steine und schleuderte keine Stahlkugeln, weil ich immer Angst hatte, dass die andern mit mir machen würden, was ich mit ihnen machte, aber ich empfand eine Art von moralischem Hochgefühl, wenn ich durch die Gassen der Innenstadt vor der Polizei davonlief. Ich kam nach Hause mit dem Gefühl, eine Pflicht getan zu haben. In den Versammlungen konnte ich mich nicht für die Ideologiedebatten erwärmen, die zwischen den verschiedenen Gruppen geführt wurden — ich hatte immer den Verdacht, dass es genügen würde, das richtige Zitat zu finden, um aus der einen in die andere Gruppe zu wechseln. Ich amüsierte mich mit der Suche nach dem richtigen Zitat. Ich modulierte.
Da es mir bei Demonstrationen hin und wieder passiert war, dass ich mich hinter dem einen oder anderen Spruchband einreihte, um einem Mädchen zu folgen, das meine Phantasie erregte, zog ich daraus den Schluss, dass für viele meiner Genossen die politische Aktivität eine sexuelle Erfahrung war — und Sex war eine Passion. Ich wollte bloß neugierig sein. Gewiss, bei meinen Studien über die Templer und die diversen Gräuel, die man ihnen zugeschrieben hat, bin ich auf die These des Karpokrates gestoßen, nach der man, um sich von der Tyrannei der Engel, der Herren des Kosmos, zu befreien, jede Schandtat begehen und die Verpflichtungen abschütteln müsse, die mit dem Universum und mit dem eigenen Körper ausgehandelt worden sind, denn nur wenn man alle Taten begehe, könne die Seele sich freimachen von ihren Leidenschaften, um zur ursprünglichen Reinheit zurückzugelangen. Während wir den Großen Plan erfanden, entdeckte ich, dass viele Mysteriensüchtige in ihrem Streben nach Erleuchtung diesen Weg gehen. Doch Aleister Crowley, der als der perverseste Mensch aller Zeiten definiert worden ist und der folglich alles, was er nur irgend konnte, mit Verehrern beider Geschlechter getan haben muss, hatte nach Auskunft seiner Biographen nur extrem hässliche Frauen (ich vermute, dass auch die Männer, nach dem, was sie schrieben, nicht besser waren), und mir bleibt der Verdacht, dass er's nie richtig getrieben hat.