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»Und dann?«

»Hören Sie, Casaubon, warum interessieren Sie sich so für meine Angelegenheiten?«

»Weil Sie erzählen, und Erzählungen sind Fakten des kollektiven Imaginären.«

»Good point. Also, eines Morgens begab sich X9 aufs flache Land hinaus, vielleicht hatte er sich mit dem Mädchen in den Feldern verabredet, um über jenes kümmerliche Petting hinauszugelangen und ihr zu zeigen, daß seine Rute weniger kariös war als seine Zähne — entschuldigt, ich kann ihn noch immer nicht leiden —, na jedenfalls, da locken ihn die Faschisten in eine Falle, bringen ihn in die Stadt, und früh um fünf am nächsten Morgen wird er erschossen.«

Pause. Belbo sah auf seine Hände, die er flach zusammengelegt hielt wie im Gebet. Dann nahm er sie plötzlich auseinander und sagte: »Es war der Beweis, daß er kein Infiltrierter war.«

»Moral der Geschichte?«

»Wer sagt denn, daß jede Geschichte eine Moral haben muß? Aber wenn ich's recht bedenke, vielleicht will sie sagen, daß man, um etwas zu beweisen, manchmal sterben muß.«

97

Ich bin, der ich bin.

Exodus 3,14

Ich bin, der ich bin. Ein Axiom der hermetischen Philosophie.

Madame Blavatsky, Isis Unveiled, p. l

— Wer bist du? fragten gleichzeitig dreihundert Stimmen, während zwanzig Degen in den Händen der nächsten Phantome aufblitzten. — Ich bin, der ich bin, sagte er.

Alexandre Dumas, Joseph Balsamo, II

  Am nächsten Morgen kamen wir wieder zusammen. »Gestern haben wir ein schönes Stück Trivialliteratur geschrieben«, sagte ich zu Belbo. »Aber wenn wir einen glaubwürdigen Plan machen wollen, sollten wir uns vielleicht ein bisschen mehr an die Realität halten.«

»An welche Realität?« fragte er mich. »Vielleicht gibt uns nur die sogenannte Trivialliteratur den wahren Maßstab der Realität. Man hat uns genarrt.«

»Wer?«

»Man hat uns eingeredet, auf der einen Seite wäre die Große Kunst, die Hochliteratur, die typische Personen in typischen Umständen darstellt, und auf der anderen die Trivialliteratur, die atypische Personen in atypischen Umständen darstellt. Ich glaubte, ein wahrer Dandy würde sich nie mit Scarlett O'Hara einlassen, nicht mal mit Constance Bonacieux oder gar mit Angélique. Ich spielte mit dem Trivialroman, um mich ein bisschen außerhalb des Lebens zu ergehen. Er beruhigte mich, weil er mir das Unerreichbare vorsetzte. Aber es ist nicht so.«

»Nein?«

»Nein. Proust hatte recht, das Leben wird sehr viel besser durch schlechte Musik als durch eine Missa Solemnis dargestellt. Die Kunst gaukelt uns etwas vor und beruhigt uns, denn sie lässt uns die Welt so sehen, wie die Künstler sie gerne hätten. Der Schauerroman tut so, als ob er bloß scherzte, aber dann zeigt er uns die Welt so, wie sie ist, oder zumindest so, wie sie sein wird. Die Frauen sind Mylady ähnlicher als Anna Karenina, Fu Man-Chu ist wahrer als Nathan der Weise, und die Realgeschichte gleicht mehr der von Eugene Sue erzählten als der von Hegel entworfenen. Shakespeare, Melville, Balzac und Dostojewski haben Schauergeschichten geschrieben. Das, was wirklich geschehen ist, ist das, was die Trivialliteratur im voraus erzählt hat«

»Ja, weil die Trivialliteratur leichter zu imitieren ist als die Kunst. Um wie Mona Lisa zu werden, muß man hart an sich arbeiten, um wie Mylady zu werden, braucht man sich bloß dem natürlichen Hang zur Bequemlichkeit zu überlassen.«

Diotallevi, der bisher geschwiegen hatte, warf ein: »Wie unser Agliè. Er imitiert lieber Saint-Germain als Voltaire.«

»Ja«, sagte Belbo, »und die Frauen finden Saint-Germain ja auch interessanter als Voltaire.«

Später fand ich unter seinen files einen Text, in dem er unsere Ergebnisse in Schauerroman-Archetypen resümiert hatte. Ich sage in Schauerroman-Archetypen, weil er sich offensichtlich damit amüsiert hatte, das Ganze durch zusammenmontierte Klischees zu erzählen, ohne an Eigenem mehr als ein paar verbindende Sätze hinzuzufügen. Ich kann beileibe nicht alle Zitate, Plagiate, Entlehnungen und Paraphrasen identifizieren, aber ich habe viele Stellen dieser wilden Collage wiedererkannt. Ein weiteres Mal hatte sich Belbo, um dem Leiden an der Historie zu entfliehen, dem Leben schreibend durch eingeblendete Schreibe anderer genähert.

Filename: Die Rückkehr des Grafen von Saint-Germain

Seit nunmehr fünf Jahrhunderten treibt mich die rächende Hand des Allmächtigen, aus den Tiefen Asiens bis in dieses Land. Ich bringe Schrecken, Verzweiflung und Tod. Doch wohlan, ich bin der Notar des Großen Planes, auch wenn es die andern nicht wissen, ich habe Schlimmeres gesehen, und das Anzetteln der Bartholomäusnacht hat mich mehr Mühsal gekostet, als ich jetzt aufzubringen gedenke. Oh, warum kräuseln sich meine Lippen zu diesem satanischen Lächeln? Ich bin, der ich bin — hätte sich der verruchte Cagliostro nicht auch noch dieses mein letztes Recht angemaßt.

Doch der Triumph ist nahe. Soapes, als ich Kelley war, hat mich alles gelehrt, im Tower von London. Das Geheimnis ist, ein anderer zu werden.

Mit schlauen Intrigen habe ich Giuseppe Balsamo in der Festung San Leo einkerkern lassen und mich seiner Geheimnisse bemächtigt. Als Saint-Germain bin ich verschwunden, alle halten mich jetzt für Cagliostro.

Vor kurzem hat es Mitternacht von allen Uhren der Stadt geschlagen. Welch unnatürliche Stille. Dieses Schweigen verspricht nichts Gutes. Die Nacht ist wunderbar, obschon sehr kalt, der Mond hoch am Himmel taucht die undurchdringlichen Gassen des alten Paris in ein frostiges Licht. Es könnte zehn Uhr abends sein: Der Turm von Black Friars Abbey hat soeben feierlich acht Uhr geschlagen. Der Wind schüttelt mit düsterem Klirren die Eisenfähnchen auf der trostlosen Weite der Dächer. Dichte Wolken bedecken den Himmel.

Captain, kehren wir um? Nein, im Gegenteil, wir stürmen voran. Verflucht, gleich wird die Patna sinken, spring, Surabaya-Jim, spring! Gäbe ich nicht, um dieser Angst zu entgehen, einen nussgroßen Diamanten? An Luv den Hauptbaum, den Besan, das Vorbram, was willst du noch mehr, verdammter Hurensohn, there blows!

Ich fletsche grässlich das Gehege der Zähne, indes eine Todesblässe mein wächsernes Antlitz mit grünlichen Flammen entzündet.

Wie bin ich hierhergekommen, ich, der ich als das Inbild der Rache erscheine? Grinsen werden die Geister der Hölle, verächtlich grinsen über die Tränen des Wesens, dessen drohende Stimme sie so oft erzittern ließ im tiefsten Schlund ihres feurigen Abgrunds.

Wohlan, eine Fackel.

Wie viele Stufen bin ich hinabgestiegen in diesen Keller? Sieben? Sechsunddreißig? Da ist kein Stein, den ich berührt, kein Schritt, den ich getan habe, der nicht eine Hieroglyphe verbärge. Wenn ich sie aufgedeckt haben werde, wird meinen Getreuen endlich das Große Geheimnis offenbart. Dann bleibt ihnen nur noch, es zu entziffern, und seine Lösung wird sein der Schlüssel, hinter dem sich die Botschaft verbirgt, die dem Eingeweihten, und nur ihm allein, in klaren Worten sagen wird, welcher Art das Rätsel ist.

Vom Rätsel zur Dechiffrierung ist der Weg kurz, und herauskommen wird in gleitender Pracht das Hierogramm, um das Gebet der Befragung zu läutern. Dann wird keinem mehr unbekannt sein können das Arkanum, der Schleier, der ägyptische Teppich, der das Pentaculum bedeckt. Und von da geht es weiter zum Licht, den Okkulten Sinn des Pentaculums zu erklären, die Kabbalistische Frage, auf die nur wenige antworten werden, um mit Donnerstimme zu sagen, welches das Unergründliche Zeichen sei. Über dieses gebeugt, werden Sechsunddreißig Unsichtbare die Antwort geben müssen, die Aus-Sage der Großen Rune, deren Sinn sich nur den Kindern des Hermes erschließt, und ihnen allein sei das Höhnische Siegel gegeben, die Maske, hinter der sich das Antlitz abzeichnet, das sie bloßzulegen versuchen, der Mystische Rebus, das Erhabene Anagramm...