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Der Nazismus war der Moment, in dem der magische Geist sich der Hebel des materiellen Fortschritts bemächtigte. Lenin sagte, Kommunismus sei Sozialismus plus Elektrizität. In gewisser Hinsicht kann man sagen, Hitlerismus war Guénonismus plus Panzerdivisionen.
Pauwels & Bergier, Le matin des magiciens, Paris, Gallimard, 1960, 2, VII
Belbo war es gelungen, auch Hitler in den Großen Plan einzubauen. »Steht alles geschrieben, schwarz auf weiß. Es ist erwiesen, daß die Begründer des Nazismus mit dem teutonischen Neutemplerismus zusammenhingen.«
»Sie verkohlen uns!«
»Nein, ehrlich, Casaubon, ich erfinde nichts, diesmal erfinde ich wirklich nichts.«
»Also bitte, wann hätten wir jemals etwas erfunden? Wir sind immer von objektiven Fakten ausgegangen, in jedem Fall von allgemein zugänglichen Daten.«
»Auch diesmal. Also aufgepasst: im Jahre 1912 tritt ein Germanenorden hervor, der eine ›Ariosophie‹ propagiert, soll heißen, eine Philosophie der arischen Überlegenheit Sechs Jahre später, 1918, gründet ein gewisser Baron von Sebottendorff eine Filiale, die Thule-Gesellschaft, einen Geheimbund, eine soundsovielte Variante der Strikten Observanz neu-templerischer Prägung, aber mit starken rassistischen Zügen: pangermanisch, neo-arisch. Und 1933 wird derselbe Sebottendorff schreiben, er habe gesät, was Hitler dann habe reifen lassen. Tatsächlich taucht das Hakenkreuz erstmals im Umkreis der Thule-Gesellschaft auf. Und wer gehört sofort zu dieser Thule-Gesellschaft? Rudolf Heß, Hitlers Schatten! Und dann Alfred Rosenberg! Und Hitler selbst! Und sicher habt ihr in der Zeitung gelesen, daß Heß sich noch heute in seinem Spandauer Gefängnis mit esoterischen Wissenschaften beschäftigt. Sebottendorff schreibt 1924 ein Büchlein über Alchimie und bemerkt, daß die ersten Experimente mit Atomspaltung die Wahrheit des Großen Werkes beweisen. Und er schreibt auch einen Roman über die Rosenkreuzer! Außerdem wird er Leiter einer Astrologischen Rundschau, und wie man bei Trevor-Roper nachlesen kann, haben die Nazibonzen, Hitler voran, keinen Schritt getan, ohne sich vorher ein Horoskop stellen zu lassen. 1943 sollen sie einen Haufen medial begabter Personen befragt haben, um herauszubekommen, wo Mussolini gefangen gehalten wurde. Kurz, die ganze Naziführung war mit dem teutonischen Neo-Okkultismus verbunden.«
Belbo schien den Zwischenfall mit Lorenza vergessen zu haben, und ich bestärkte ihn darin, indem ich seine Rekonstruktion noch ein Stück weitertrieb: »Im Grunde können wir auch Hitlers berühmte Verführungsmacht der Massen in diesem Licht sehen. Physisch war er ein mickriges Männchen, seine Stimme war schrill, wie schaffte er es, die Leute so verrückt zu machen? Er muß mediale Fähigkeiten gehabt haben. Vermutlich wusste er, instruiert von irgendwelchen Druiden aus seiner Gegend, wie man die Erdstrahlen anzapft. Auch er also war eine Sonde, ein biologischer Menhir. Er übertrug die Energie der tellurischen Ströme auf seine Getreuen im Nürnberger Stadion. Eine Zeit lang muß es ihm gelungen sein, dann waren seine Batterien erschöpft.«
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An alle Welt: Ich erkläre, daß die Erde innen hohl und bewohnbar ist; sie enthält eine gewisse Anzahl solider Sphären, die konzentrisch sind, das heißt ineinandergeschoben, und sie ist an den beiden Polen offen in einer Breite von zwölf bis sechzehn Grad.
J. Cleves Symmes, Hauptmann der Infanterie, am 10. April 1818, zit. in Sprague de Camp/Ley, Lands Beyond, New York, Rinehart, 1952, X
»Gratuliere, Casaubon, in Ihrer Unschuld haben Sie eine richtige Intuition gehabt. Hitlers wahre und einzige Obsession waren in der Tat die unterirdischen Ströme. Hitler war ein Anhänger der Hohlweltlehre.«
»Kinder, ich gehe, ich hab Gastritis«, sagte Diotallevi.
»Warte, jetzt wird's doch erst spannend: Die Erde ist eine hohle Kugel, wir leben nicht draußen auf der konvexen Außenfläche, sondern drinnen an der konkaven Wölbung. Was wir für den Himmel halten, ist eine Masse aus dunklem Gas, durchsetzt mit Zonen von strahlendem Licht, die das Innere der Kugel füllt. Alle astronomischen Maße müssen revidiert werden. Der Himmel ist nicht unendlich, er ist begrenzt. Die Sonne, wenn sie denn existiert, ist nicht größer, als sie erscheint Ein Bällchen von höchstens dreißig Zentimetern Durchmesser im Mittelpunkt der Erde. Das hatten schon die alten Griechen vermutet.«
»Das hast du jetzt erfunden«, sagte Diotallevi müde.
»Das hab ich jetzt gerade nicht erfunden! Die Idee hatte bereits zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Amerikaner namens Symmes. Um die Jahrhundertwende wird sie dann von einem anderen Amerikaner aufgegriffen, einem gewissen Teed, der sich auf alchimistische Experimente und die Lektüre des Propheten Jesaja stützt. Und nach dem Ersten Weltkrieg wird seine Theorie von einem Deutschen perfektioniert, wie heißt er noch gleich, Karl Neupert, der sogar eine regelrechte Bewegung gründet, die Bewegung der ›Hohlweltlehre‹. Hitler und die Seinen finden, dass diese Theorie der hohlen Welt aufs schönste zu ihren Prinzipien passt, ja es heißt sogar, sie hätten einige ihrer V2 nur deshalb danebengeschossen, weil sie die Flugbahn ausgehend von der Annahme einer konkaven und nicht konvexen Erdoberfläche berechneten... Hitler hat sich nunmehr überzeugt, dass er der König der Welt ist und dass der Führungsstab seiner Partei die Unbekannten Oberen sind. Und wo bitte wohnt der König der Welt? Innen drin, unten, nicht draußen. Von dieser Hypothese geht Hitler aus, als er beschließt, das Ganze umzustülpen: die Richtung und Reihenfolge der Suche, die Konzeption der endgültigen Karte und die Interpretationsweise des Pendels! Die sechs Gruppen müssen neu kombiniert und alle Berechnungen neu gemacht werden. Man vergegenwärtige sich nur einmal die Logik der Hitlerschen Eroberungen... Zuerst nimmt er Danzig, um die klassischen Stätten der Deutschordensritter in die Hand zu bekommen. Dann erobert er Paris, bringt das Pendel und den Eiffelturm unter seine Kontrolle, kontaktiert die synarchischen Gruppen und schleust sie in die Vichy-Regierung ein. Dann sichert er sich die Neutralität und faktische Komplizenschaft der Portugiesen. Viertes Ziel ist natürlich England, aber wir wissen, das ist ein harter Brocken. Einstweilen versucht er, mit dem Afrika-Feldzug, nach Palästina vorzustoßen, aber auch das gelingt nicht. Also zielt er nun auf die Unterwerfung der paulizianischen Territorien, indem er den Balkan und Russland überfällt. Als er vier Sechstel des Großen Plans in Händen zu haben glaubt, schickt er Heß in geheimer Mission nach England, um ein Bündnis vorzuschlagen. Da die Baconianer nicht anbeißen, hat er eine Intuition: diejenigen, die den wichtigsten Teil des Geheimnisses in der Hand haben, müssen die uralt-ewigen Erbfeinde sein: die Juden. Und es ist gar nicht nötig, sie in Jerusalem suchen zu gehen, wo bloß noch wenige von ihnen leben. Das Jerusalemer Stück der Templerbotschaft befindet sich nicht mehr in Palästina, sondern im Besitz einer Gruppe der Diaspora. Und so erklärt sich der Holocaust.«
»Wie das denn?«
»Na, überlegt doch mal. Stellt euch vor, ihr wollt einen Völkermord begehen... «
»Ich bitte dich«, sagte Diotallevi, »Jetzt übertreibst du aber. Ich habe Magenschmerzen, ich gehe.«
»Nun warte doch, Herrgott, als die Templer den Sarazenen die Bäuche aufschlitzten, da hast du dich amüsiert, weil das schon so lange her war, und jetzt willst du hier den Moralisten spielen wie irgendein kleinbürgerlicher Intellektuellen! Wir sind hier dabei, die Weltgeschichte neu zu schreiben, da dürfen wir vor nichts zurückschrecken!«