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»Ingeniöse Erklärung. Aber sie taugt soviel wie die Konjektur von Ardenti.«

»Bis hierher, ja. Aber nun stell dir vor, du machst mehr als nur eine Konjektur, und alle zusammen stützen sich gegenseitig. Dann bist du doch schon viel sicherer, dass du richtig geraten hast, oder? Ich bin von einem Verdacht ausgegangen. Die Wörter, die Ingolf hier zum Chiffrieren benutzt hat, sind nicht die, die Trithemius vorschlägt. Sie sind zwar im selben assyrisch-babylonisch-kabbalistischen Stil gehalten, aber es sind nicht dieselben. Dabei hätte Ingolf, wenn er nach Wörtern mit den für seine Zwecke nötigen Anfangsbuchstaben suchte, bei Trithemius so viele gefunden, wie er wollte. Warum hat er andere gewählt?«

»Warum?«

»Vielleicht brauchte er auch bestimmte Buchstaben an der zweiten, dritten, vierten Stelle im Wort. Vielleicht wollte unser ingeniöser Ingolf eine multicodierte Botschaft konstruieren, vielleicht wollte er besser sein als Trithemius. Trithemius schlägt vierzig größere Kryptosysteme vor; in dem einem zählen nur die Anfangsbuchstaben, im andern der erste und der letzte, im dritten abwechselnd der erste und der letzte und so weiter, so dass du mit ein bisschen gutem Willen auch noch hundert andere Systeme erfinden kannst. Was nun die zehn kleineren Kryptosysteme angeht, hatte der Oberst nur das erste berücksichtigt, das einfachste von allen. Aber die anderen funktionieren alle nach dem Prinzip des zweiten, von dem ich dir hier eine Kopie gemacht habe, schau her. Du musst dir den inneren Alphabetkreis als eine drehbare Scheibe vorstellen, die du so drehen kannst, dass das A mit jedem beliebigen Buchstaben des äußeren Kreises zusammentrifft. Du hast also ein System, in dem das A mit X wiedergegeben wird, das B mit Z und so weiter, ein anderes, in dem das A mit U wiedergegeben wird, das B mit X und so weiter... Bei zweiundzwanzig Buchstaben in jedem Kreis kommst du nicht bloß auf zehn, sondern auf einundzwanzig Chiffriersysteme, und unbrauchbar ist nur das zweiundzwanzigste, in dem das A mit dem A zusammentrifft... «

Chiffrierscheiben

aus Trithemius, Clavis Steganographiae, Frankfurt a. M. 1606

  »Jetzt sag mir nicht, du hättest für jeden einzelnen Buchstaben jedes einzelnen Wortes alle einundzwanzig Systeme durchprobiert!«

»Ich hab eben Grips im Kopf und Glück gehabt. Da die kürzesten Wörter sechs Buchstaben haben, können nur die ersten sechs wichtig sein, und der Rest steht bloß zur Verschönerung da. Warum sechs Buchstaben? Ich hab mir gedacht, vielleicht hat Ingolf jeweils den ersten chiffriert, dann einen übersprungen und den dritten chiffriert, dann zwei übersprungen und den sechsten chiffriert. Wenn er zum Chiffrieren der ersten Buchstaben das erste System genommen hat, wie wir ja wissen, hat er vielleicht das zweite für die dritten genommen, also hab ich die Drehscheibe Nummer zwei bei den dritten probiert, und es hat einen Sinn ergeben. Dann habe ich die Drehscheibe Nummer drei für die jeweils sechsten Buchstaben probiert, und es hat gleichfalls einen Sinn ergeben. Ich schließe nicht aus, dass Ingolf noch weitere Buchstaben chiffriert hat, aber drei Beweise genügen mir, wenn du willst, kannst du's ja weiter probieren.«

»Jetzt spann mich nicht so auf die Folter. Was ist herausgekommen?«

»Schau dir den Text noch mal an, ich hab die Buchstaben, auf die es ankommt, unterstrichen, also in jedem Wort den ersten, dritten und sechsten.«

Kuabris Defrabox Rexulon Ukkazaal Ukzaab Urpaefel Taculbain Habrak Hacoruin Maquafel Tebrain Hmcatuin Rokasor Himesor Argaabil Kaquaan Docrabax Reisaz Reisabrax Decaiquan Oiquaquil Zaitabor Quaxaop Dugraq Xaelobran Disaeda Magisuan Raitak Huidal Uscolda Arabaom Zipreus Mecrim Cosmae Duquifas Rocarbis

»Also, die erste Botschaft kennen wir schon, es ist die mit den sechsunddreißig Unsichtbaren in sechs Gruppen. Jetzt hör zu, was rauskommt, wenn man die jeweils dritten Buchstaben mit Hilfe der Drehscheibe Nummer zwei ersetzt: chambre des desmoiselles, l'aiguille creuse.«

»Aber das kenne ich, das ist... «

»En aval d'Etretat — La Chambre des Desmoiselles — Sous le Fort du Fréfossé — Aiguille Creuse. Das ist die Botschaft, die Arsene Lupin entziffert, als er das Geheimnis der ›Hohlen Nadel‹ entdeckt. Du erinnerst dich: bei Etretat am Ärmelkanal ragt aus dem Meer die Aiguille Creuse, eine ausgehöhlte, innen bewohnbare Felsenspitze, eine natürliche Festung, die Geheimwaffe Cäsars, als er Gallien eroberte, und später der Könige von Frankreich. Die Quelle der ungeheuren Macht des Meisterdiebes Arsene Lupin. Und du weißt, dass die Lupinologen ganz närrisch sind wegen dieser Geschichte, sie pilgern nach Etretat, sie suchen nach anderen geheimen Gängen, sie anagrammatisieren jedes Wort von Leblanc... Ingolf war ein Lupinologe, so wie er ein Rosicruciologe war, und folglich hat er chiffriert, was das Zeug hält.«

»Aber meine Diaboliker könnten immer noch sagen, die Templer hätten eben das Geheimnis der Hohlen Nadel gekannt, und folglich sei die Botschaft in Provins im vierzehnten Jahrhundert geschrieben worden.«

»Sicher, ich weiß. Aber jetzt kommt die dritte Botschaft. Drehscheibe Nummer drei auf die sechsten Buchstaben angewandt. Hör zu, was rauskommt — merde i'en ai marre de cette steganographie. (Scheiße, ich hab genug von dieser Steganographie.) Und das ist modernes Französisch, die Templer sprachen nicht so. So hat Ingolf gesprochen, der, nachdem er sich erst damit abgeplagt hatte, seine Spinnereien zu chiffrieren, sich nun damit amüsierte, seine ganze Chiffriererei — chiffriert — zum Teufel zu jagen. Und dass er nicht ohne Witz war, siehst du auch daran, dass alle drei Botschaften genau sechsunddreißig Buchstaben haben. Tja, mein armer Pim, Ingolf hat genauso gespielt wie ihr, und dieser Blödmann von Oberst hat ihn ernst genommen.«

»Und wieso ist Ingolf dann verschwunden?«

»Wer sagt dir, dass er umgebracht worden ist? Vielleicht hatte er's satt, in Auxerre zu leben, immer nur den Apotheker und seine altjüngferliche Tochter zu sehen, die den ganzen Tag lang am Jammern war. Vielleicht ist er nach Paris gegangen, hat eins von seinen alten Büchern günstig verkauft, hat eine nette kleine Witwe getroffen und ein neues Leben begonnen. Wie diese Ehemänner, die bloß mal eben Zigaretten holen gehen, und die Frau sieht sie nie wieder.«

»Und der Oberst?«

»Hast du nicht gesagt, dass nicht mal dieser Kriminalkommissar sicher war, dass er umgebracht worden ist? Vielleicht hatte er irgendein faules Ding gedreht, seine Opfer hatten ihn erkannt, und da musste er sich aus dem Staub machen. Vielleicht verkauft er in diesem Moment gerade den Eiffelturm an einen amerikanischen Touristen und nennt sich Dupont.«

Ich konnte mich nicht auf allen Fronten geschlagen geben. »Na schön, wir sind von einer Wäscheliste ausgegangen, aber dann waren wir um so bravouröser. Wir wussten selber, dass wir erfanden. Wir haben gedichtet, wir waren Poeten.«

»Euer Plan ist nicht poetisch. Er ist grotesk. Es kommt den Leuten nicht in den Sinn, nach Troja zurückzukehren und es noch einmal anzuzünden, weil sie Homer gelesen haben. Mit Homer ist der Brand von Troja etwas geworden, was nie gewesen war und nie sein wird und doch immer fortbestehen wird. Die Ilias hat so viele Bedeutungen, weil sie ganz klar ist, ganz durchsichtig. Deine Rosenkreuzer-Manifeste waren weder klar noch durchsichtig, sie waren ein dunkles Gemurmel und versprachen ein Geheimnis. Deswegen haben so viele versucht, sie wahr werden zu lassen, und jeder hat in ihnen gefunden, was er wollte. Bei Homer gibt es kein Geheimnis. Euer Plan ist voll von Geheimnissen, weil er voll von Widersprüchen ist. Deswegen könntest du Tausende von Unsicheren finden, die sofort bereit wären, sich in ihm wiederzuerkennen. Werft den ganzen Plunder weg. Homer hat nicht simuliert. Ihr habt simuliert. Wehe, wenn du simulierst, alle glauben dir. Die Leute haben Semmelweis nicht geglaubt, als er den Ärzten sagte, sie sollten sich die Hände waschen, bevor sie die Gebärenden anfassen. Er sagte zu simple Sachen. Die Leute glauben dem, der Haarwuchsmittel für Glatzköpfige anpreist. Sie spüren zwar instinktiv, dass er Wahrheiten zusammenkleistert, die nicht zusammenhalten, dass er nicht logisch ist und nicht seriös. Aber man hat ihnen gesagt, Gott sei komplex und unergründlich, und daher empfinden sie Inkohärenz als etwas Gottähnliches. Das Unwahrscheinliche ist dem Wunder am ähnlichsten. Ihr habt ein Haarwuchsmittel für Glatzköpfige erfunden. Das gefällt mir nicht, es ist ein hässliches Spiel.«