Aber da ist noch die Geschichte von Cecilia, und Cecilia war auf der Erde. Ich dachte an sie vor dem Einschlafen, ich stieg den Hügel hinauf, um die Milch beim Bauern zu holen, und während die Partisanen vom gegenüberliegenden Hügel auf die Wachtposten schossen, sah ich mich ihr zu Hilfe eilen, um sie zu retten vor einer Schar schwarzer Schergen, die sie mit hochgehaltenen Maschinenpistolen verfolgten... Blonder als Mary Lena, beunruhigender als das Mädchen im Sarg, reiner und holder als die Jungfrau. Cecilia, lebendig und erreichbar, ein Nichts genügte, und ich hätte sie sogar ansprechen können, ich war mir sicher, dass sie einen von meinem Schlag lieben könnte, liebte sie doch schon einen, der hieß Papi, er hatte blondes struppiges Haar auf einem winzigen Schädel, er war ein Jahr älter als ich und hatte ein Saxophon. Und ich nicht mal eine Trompete. Ich habe sie nie zusammen gesehen, aber alle im Unterricht flüsterten kichernd und ellbogenstoßend, dass sie's miteinander trieben. Bestimmt logen sie, diese Bauernlümmel, geil wie die Böcke. Wollten mir wohl zu verstehen geben, dass sie (sie, Marylena Cecilia, Braut und Magd) derart zugänglich war, dass jemand schon Zugang zu ihr gefunden hatte... Auf jeden Fall — vierter Fall — war ich aus dem Spiel.
Schreibt man über solch eine Geschichte einen Roman? Vielleicht sollte ich ihn über die Frauen schreiben, vor denen ich fliehe, weil ich sie haben konnte. Oder gekonnt hätte. Sie haben. Oder ist das dieselbe Geschichte?
Fazit: Wenn man nicht einmal weiß, um welche Geschichte es eigentlich geht, korrigiert man besser die Philosophiebücher.
9
In der rechten Hand trug sie ein gantz güldin Posaun.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg, Zetzner, 1616, 1
In diesem Text wird eine Trompete erwähnt. Vorgestern Abend im Periskop wusste ich noch nicht, wie wichtig das war. Ich hatte nur einen sehr vagen Anhaltspunkt.
Während der langen Nachmittage bei Garamond kam es vor, dass Belbo, vor einem Manuskript verzweifelnd, die Augen von seiner Lektüre hob und auch mich abzulenken versuchte, der ich womöglich gerade am Tisch gegenüber Kupferstiche von der Pariser Weltausstellung für den Umbruch klebte, und dann erging er sich manchmal in alten Erinnerungen — bereit, den Vorhang gleich wieder fallen zu lassen, sobald er argwöhnte, dass ich ihn allzu wörtlich nahm. Er schilderte mir Episoden aus seiner Jugend, aber nur als Exempel, um irgendwelche Eitelkeiten zu geißeln. »Ich frage mich, wo das alles noch enden soll«, sagte er eines Tages.
»Sprechen Sie vom Untergang des Abendlandes?«
»Geht es unter? Ist doch schließlich sein Beruf, oder? Nein, ich spreche von diesen Leuten, die schreiben. Das ist jetzt das dritte Manuskript in einer Woche, eins über das byzantinische Recht, eins über das Finis Austriae und das dritte über die Sonette von Petrarca. Ziemlich verschiedene Dinge, meinen Sie nicht?«
»Denke schon.«
»Eben, und hätten Sie wohl gedacht, dass in allen Dreien an einem bestimmten Punkt der Wunsch und das Liebesobjekt auftauchen? Ist eine richtige Mode heute. Bei Petrarca versteh ich's ja noch, aber beim byzantinischen Recht?«
»Also werden Sie ablehnen?«
»Aber nein, das sind vollfinanzierte Arbeiten, komplett bezahlt vom Nationalen Forschungsrat, und außerdem sind sie nicht schlecht. Allenfalls rufe ich diese drei Leute an und frage sie, ob sie die paar Zeilen nicht streichen können. Die stehen doch sonst selber dumm da.«
»Was kann denn bitte das Liebesobjekt im byzantinischen Recht gewesen sein?«
»Och, das kriegt man immer irgendwie rein ... Freilich, wenn es im byzantinischen Recht ein Liebesobjekt gab, war's nicht das, was der hier sagt. Es ist nie das.«
»Das was?«
»Das, was man meint. Einmal, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war, träumte ich, ich hätte eine Trompete. Eine vergoldete. Wissen Sie, das war so einer von diesen Träumen, bei denen man meint, man hätte Honig in den Adern, so eine Art von nächtlicher Pollution, wie man sie in der Pubertät haben kann. Ich glaube, ich war nie so glücklich wie in jenem Traum. Nie mehr. Beim Aufwachen merkte ich dann natürlich, dass die Trompete nicht da war, und fing an zu heulen wie ein Schlosshund. Ich heulte den ganzen Tag lang. Wirklich, diese Vorkriegszeit damals, es muss so um Achtunddreißig gewesen sein, das war schon eine sehr karge Zeit. Heutzutage, wenn ich einen Sohn hätte und ihn so verzweifelt sähe, würde ich sagen, na komm, ich kauf dir eine Trompete — es ging schließlich bloß um ein Spielzeug, das hätte schon nicht die Welt gekostet. Nicht so meine Eltern, die dachten gar nicht daran. Geldausgeben war damals eine ernste Sache. Und es war eine ernste Sache, die Kinder zur Bescheidenheit zu erziehen, ihnen beizubringen, dass sie nicht immer alles kriegen konnten, was sie begehrten. Ich mag die Kohlsuppe nicht, sagte ich zum Beispiel und das stimmte, der Kohl in der Suppe war mir eklig. Nicht dass sie dann etwa sagten, na schön, lass die Suppe für diesmal stehen und nimm bloß das Hauptgericht (wir waren nicht arm, wir hatten Vorspeise, Hauptgang und Dessert). O nein, kein Gedanke, was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Eher schon, als Kompromisslösung, machte sich dann meine Oma daran, den Kohl aus meiner Suppe zu fischen, Strunk für Strunk, Fädchen für Fädchen, und ich musste die entkohlte Suppe essen, die noch ekliger war als vorher, und das war schon eine Konzession, die mein Vater missbilligte.«
»Und die Trompete?«
Er sah mich zögernd an: »Was interessiert Sie so an der Trompete?« »Mich nichts, Sie haben von einer Trompete gesprochen, im Zusammenhang mit dem Liebesobjekt, das dann nicht das richtige ist ...«
»Die Trompete ... An jenem Abend sollten mein Onkel und meine Tante aus *** ankommen, sie hatten keine Kinder, und ich war ihr Lieblingsneffe. Sie sahen mich heulen wegen diesem Trompetentraum und sagten, sie würden's schon richten, am nächsten Tag würden wir ins Kaufhaus gehen, ins Upim, wo es eine ganze Spielwarenabteilung gab, ein wahres Wunderland, und da würde ich die Trompete finden, die ich mir so wünschte. Ich brachte die ganze Nacht lang kein Auge zu und trat den ganzen nächsten Vormittag lang von einem Bein auf das andere. Am Nachmittag gingen wir endlich ins Upim, und da gab es mindestens drei Sorten Trompeten, wahrscheinlich alle aus dünnem Blech, aber mir kamen sie vor wie aus reinem Gold. Es gab ein Signalhorn, eine Zugposaune und eine Pseudotrompete, so eine mit richtigem Mundstück, und sie war auch goldfarben, aber sie hatte Klappen wie ein Saxofon. Ich wusste nicht, welche ich nehmen sollte, und vielleicht zögerte ich zu lange. Ich wollte sie alle drei und machte den Eindruck, als wollte ich keine. Inzwischen hatten Onkel und Tante auf die Preisschilder gesehen. Sie waren nicht knausrig, aber mir schien, dass sie eine Klarinette billiger fanden, so eine aus Bakelit, ganz schwarz und mit silbernen Klappen. ›Was meinst du, würde dir die nicht besser gefallen?‹ fragten sie. Ich probierte sie, blökte gehorsam rein und versuchte mich zu überzeugen, dass sie wunderschön sei, aber in Wirklichkeit überlegte ich und sagte mir, wahrscheinlich wollten sie, dass ich die Klarinette nähme, weil sie billiger war, die Trompete musste ein Vermögen kosten, das konnte ich ihnen nicht zumuten. Man hatte mir immer beigebracht, wenn jemand dir etwas schenken will, was du gern hättest, dann musst du erst mal nein danke sagen, und nicht nur einmal, nicht bloß nein danke sagen und dann gleich die Hand ausstrecken, sondern abwarten, bis man dich drängt und sagt, na nimm schon. Erst dann gibt das wohlerzogene Kind nach. Also sagte ich brav, ich wollte vielleicht gar keine Trompete, vielleicht tät's auch die Klarinette, wenn sie's lieber so hätten. Und ich schaute von unten zu ihnen rauf in der Hoffnung, dass sie mich drängten. Sie drängten mich nicht, Gott hab sie selig. Sie waren sehr glücklich, mir die Klarinette kaufen zu können, weil ich sie doch — wie sie sagten — lieber hätte. Es war zu spät zur Umkehr. Ich kriegte die Klarinette.«