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Belbo war hinausgegangen. Signora Grazia war nicht im Sekretariat, und er sah das rote Licht der Privatleitung von Signor Garamond aufleuchten, ein Zeichen, dass dieser gerade jemanden anrief. Belbo konnte der Versuchung nicht widerstehen (ich glaube, es war das erste Mal in seinem Leben, dass er eine solche Indiskretion beging). Er nahm den Hörer ab und horchte. Garamond sagte gerade: »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich glaube, ich habe ihn überzeugt. Er wird nach Paris kommen... War doch meine Pflicht. Wir gehören doch nicht umsonst zur selben spirituellen Ritterschaft.«

Also gehörte auch Garamond zu dem Geheimnis. Zu welchem Geheimnis? Zu dem, das jetzt nur er, Belbo, enthüllen konnte. Und das nicht existierte.

Es war Abend geworden. Er war zu Pilade gegangen, hatte ein paar Worte mit wer weiß wem gewechselt und hatte zu viel getrunken. Dann, am nächsten Morgen, ging er zu dem einzigen Freund, der ihm noch geblieben war. Er ging zu Diotallevi. Er ging sich Hilfe holen von einem Mann, der im Sterben lag.

Und von diesem ihrem letzten Gespräch hat er in Abulafia einen fieberhaften Bericht hinterlassen, bei dem ich nicht sagen kann, was daran von Diotallevi und was von Belbo war, denn in beiden Fällen war es wie das Murmeln dessen, der die Wahrheit sagt, weil er weiß, dass es nicht mehr der Augenblick ist, sich etwas vorzumachen.

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Und so geschah es Rabbi Ismael ben Elischa mit seinen Schülern, die das Buch Jezirah studierten. Sie machten falsche Bewegungen und gingen rückwärts, bis sie selbst in der Erde versanken bis zum Nabel wegen der Kraft der Lettern.

Pseudo-Saadja, Kommentar zum Sefer Jezirah

  Er war ihm noch nie so albinohaft erschienen, obwohl er fast keine Haare mehr hatte, auch weder Augenbrauen noch Wimpern. Sein Kopf sah aus wie eine Billardkugel.

»Entschuldige«, hatte Belbo gesagt, »darf ich dir mit meinen Nöten kommen?«

»Komm nur. Ich hab keine Nöte mehr. Nur noch Notwendigkeiten. Unabwendbare.«

»Ich habe gehört, es gibt da jetzt eine neue Therapie. Diese Sachen fressen dich auf, wenn du zwanzig bist, aber mit fünfzig gehen sie langsam voran, und man hat Zeit, eine Lösung zu finden.«

»Das gilt für dich. Ich bin noch nicht fünfzig. Mein Körper ist noch jung. Ich habe das Privileg, schneller als du zu sterben. Aber du siehst, es fällt mir schwer zu sprechen. Erzähl mir deine Geschichte, so kann ich mich ausruhen.«

Gehorsam und respektvoll erzählte ihm Belbo seine ganze Geschichte.

Und dann sprach Diotallevi, schwer atmend wie das Fremde Wesen in den Science-Fiction-Filmen. Und wie das Fremde Wesen sah er inzwischen auch aus: durchsichtig, ohne erkennbare Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Haut und Fleisch, zwischen dem leichten blonden Flaum, der noch durch den offenen Pyjama auf seinem Bauch zu sehen war, und jenem schwammigen Innereiengewölle, das nur Röntgenstrahlen oder eine fortgeschrittene Krankheit erkennbar machen können.

»Jacopo, ich liege hier in einem Bett, ich kann nicht sehen, was draußen geschieht. Soweit ich weiß, geschieht das, was du mir erzählst, entweder nur in deinem Innern, oder es geschieht draußen. In jedem Fall, ob jetzt du verrückt geworden bist oder die Welt, ist es dasselbe. In beiden Fällen hat jemand die Worte des Buches mehr durchgeschüttelt, verrührt und übereinandergehäuft, als er durfte.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wir haben uns am Wort versündigt, an dem Wort, das die Welt geschaffen hat und sie zusammenhält. Du wirst jetzt dafür bestraft, so wie auch ich bestraft worden bin. Es ist kein Unterschied zwischen dir und mir.«

Eine Schwester kam herein, gab ihm etwas zum Benetzen der Lippen und sagte zu Belbo, er dürfe ihn nicht ermüden, aber Diotallevi protestierte: »Lassen Sie mich. Ich muß ihm die Wahrheit sagen. Kennen Sie die Wahrheit?«

»Oh, ich, was fragen Sie mich da... «

»Also dann gehen Sie weg. Ich muß meinem Freund hier etwas Wichtiges sagen. Hör zu, Jacopo. So wie es im Körper des Menschen Glieder und Gelenke und Organe gibt, so gibt es auch welche in der Torah, verstehst du? Und so wie es in der Torah Glieder und Gelenke und Organe gibt, so gibt es auch welche im Körper des Menschen, klar?«

»Klar.«

»Und Rabbi Meir, als er von Rabbi Akiba lernte, mischte Vitriol in die Tinte, und der Meister sagte nichts. Aber als Rabbi Meir den Rabbi Ismael fragte, ob er es richtig mache, sagte dieser: Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn es ist eine göttliche Arbeit, und wenn du nur einen einzigen Buchstaben auslässt oder einen zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt... Wir haben versucht, die Torah umzuschreiben, aber wir haben uns nicht um die zu vielen oder zu wenigen Buchstaben gekümmert...

»Wir haben gescherzt... «

»Man scherzt nicht mit der Torah.«