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»Aber wir haben mit der Geschichte gescherzt, mit den Schriften der anderen... «

»Gibt es eine Schrift, die die Welt begründet und die nicht das Buch ist? Gib mir ein bisschen Wasser, nein, nicht im Glas, mach diesen Lappen hier nass. Danke. Jetzt hör zu. Die Lettern des Buches verrühren heißt die Welt verrühren. Da hilft nichts, das gilt für jedes Buch, für die Bibel wie für die Fibel. Diese Typen wie dein Doktor Wagner, sagen die nicht, wer mit Worten spielt und Anagramme macht und das Lexikon auf den Kopf stellt, hat Hässliches in seiner Seele und hasst seinen Vater?«

»Nein, das ist anders. Diese Typen sind Psychoanalytiker, die sagen das, um Geld zu verdienen, das sind nicht deine Rabbiner.«

»Rabbiner, Rabbiner sind alle. Alle sprechen von derselben Sache. Glaubst du, dass die Rabbiner, die von der Torah sprachen, von einer Rolle sprachen? Sie sprachen von uns, von all den Leuten, die versuchen, ihren Leib durch die Sprache neu zu machen. Jetzt höre. Um mit den Lettern des Buches umzugehen, braucht man viel Demut, und wir haben keine gehabt. Jedes Buch ist verwoben mit dem Namen Gottes, und wir haben alle Bücher der Geschichte anagrammatisiert, ohne zu beten. Sei still, hör zu. Wer sich mit der Torah beschäftigt, hält die Welt in Bewegung und hält auch seinen Körper in Bewegung, während er liest oder schreibt, denn es gibt keinen Körperteil, der nicht ein Äquivalent in der Welt hätte... Mach den Lappen noch mal nass, danke. Wenn du das Buch veränderst, änderst du die Welt, und wenn du die Welt veränderst, änderst du den Körper. Das ist es, was wir nicht begriffen haben. Die Torah lässt ein Wort aus ihrem Schrein herauskommen, sie erscheint für einen Augenblick und verbirgt sich gleich wieder. Und sie offenbart sich für einen Augenblick nur dem, der sie liebt. Sie ist wie eine wunderschöne Frau, die sich in ihrem Palast in einem kleinen entlegenen Zimmer verbirgt. Sie hat nur einen einzigen Liebhaber, von dessen Existenz niemand weiß. Und wenn ein anderer sie berühren und seine schmutzigen Hände auf sie legen will, rebelliert sie. Sie erkennt ihren Liebhaber, sie öffnet einen kleinen Spalt und zeigt sich für einen Moment. Und verbirgt sich weder. Das Wort der Torah enthüllt sich nur dem, der es liebt. Und wir haben versucht, von Büchern ohne Liebe und nur aus Spottlust zu sprechen... «

Belbo benetzte ihm ein weiteres Mal die Lippen mit dem Tuch. »Und dann?«

»Und dann haben wir tun wollen, was uns nicht erlaubt war und wofür wir nicht vorbereitet waren. Indem wir die Worte des Buches manipulierten, wollten wir den Golem erschaffen.«

»Ich verstehe nicht... «

»Du kannst nicht mehr verstehen. Du bist der Gefangene deiner eigenen Kreatur. Aber deine Geschichte spielt sich noch in der Außenwelt ab. Ich weiß nicht wie, aber du kannst ihr noch entrinnen. Für mich ist es etwas anderes, ich erlebe jetzt in meinem Körper, was wir als Spiel im Großen Plan gemacht haben.«

»Red keinen Unsinn, das ist eine Sache der Zellen...«

»Und was sind die Zellen? Monatelang haben wir wie fromme Rabbiner mit unseren Lippen eine andere Kombination der Lettern des Buches ausgesprochen. GCC, CGC, GCG, CGG. Was unsere Lippen sagten, das haben unsere Zellen gelernt. Was haben meine Zellen gemacht? Sie haben einen abweichenden Plan erfunden, und jetzt gehen sie ihre eigenen Wege. Meine Zellen erfinden eine Geschichte, die nicht die allgemeine ist. Meine Zellen haben inzwischen gelernt, dass man lästern kann, indem man das Heilige Buch anagrammatisiert, das Heilige und alle anderen Bücher der Welt. Und genauso machen sie es nun mit meinem Körper. Sie invertieren, transponieren, alternieren, permutieren, sie kreieren neue, nie gesehene und sinnlose Zellen oder solche, deren Sinn dem richtigen Sinn zuwiderläuft. Es muß einen richtigen Sinn geben, der sich von den falschen unterscheidet, sonst stirbt man. Aber sie spielen, ungläubig, blindlings. Jacopo, solange ich noch lesen konnte in diesen Monaten, habe ich viele Wörterbücher gelesen. Ich habe Wortgeschichten studiert, um zu begreifen, was mit meinem Körper passierte. Wir Rabbiner machen das so. Hast du jemals darüber nachgedacht, dass der linguistische Terminus ›Metathese‹ dem onkologischen Terminus ›Metastase‹ ähnelt? Was ist eine Metathese? Statt Wespe sagst du Wepse, und statt Herakles kannst du auch Herkules sagen. Das ist die Temurah. Das Wörterbuch sagt dir, dass Metathese Umstellung heißt, Mutation. Und Metastase heißt Umstellung, Veränderung. Wie dumm, die Wörterbücher. Die Wurzel ist dieselbe, entweder das Verb metatithemi oder das Verb methistemi. Aber metatithemi heißt: ich setze um, ich verrücke, verschiebe, substituiere, schaffe ein Gesetz ab, ändere den Sinn. Und methistemi? Genau dasselbe, ich verlagere, permutiere, transponiere, ändere die öffentliche Meinung, schnappe über und werde verrückt. Wir, und mit uns jeder, der einen verborgenen Sinn hinter den Buchstaben sucht, wir sind übergeschnappt und verrückt geworden. Und so haben es auch meine Zellen getan, gehorsam. Deswegen sterbe ich, Jacopo, und du weißt es.«

»Du redest jetzt so, weil's dir schlecht geht... «

»Ich rede jetzt so, weil ich endlich alles über meinen Körper begriffen habe. Ich studiere ihn Tag für Tag, ich weiß, was in ihm vorgeht, ich kann nur nicht eingreifen, meine Zellen gehorchen mir nicht mehr. Ich sterbe, weil ich meine Zellen davon überzeugt habe, dass es keine Regel gibt, dass man aus jedem Text machen kann, was man will. Ich habe mein Leben dafür gegeben, mich davon zu überzeugen, mich samt meinem Gehirn. Und mein Gehirn muß die Botschaft an sie weitergegeben haben, an die Zellen. Wieso soll ich mir einreden, meine Zellen seien klüger als mein Gehirn? Ich sterbe, weil wir über jede Grenze hinaus fantasievoll gewesen sind.«

»Hör zu, was mit dir geschieht, hat nichts mit unserem Großen Plan zu tun... «

»Nein? Und wieso geschieht dann mit dir, was mit dir geschieht? Die Welt benimmt sich wie meine Zellen.«

Er verstummte erschöpft. Der Doktor kam herein und zischte leise, man dürfe einen Sterbenden nicht so unter Stress setzen.

Belbo ging hinaus, und es war das letzte Mal gewesen, dass er Diotallevi gesehen hatte.

Sehr gut, hatte er geschrieben, ich werde also aus denselben Gründen von der Polizei gesucht, aus denen Diotallevi jetzt Krebs hat. Armer Freund, du stirbst, aber ich, der ich keinen Krebs habe, was tue ich? Ich fahre nach Paris, um den Grund der Wucherung zu suchen.

Er ergab sich nicht gleich. Er schloss sich vier Tage lang in seiner Wohnung ein und ordnete seine files um und um, Satz für Satz, um eine Erklärung zu finden. Dann schrieb er seinen Bericht, schrieb ihn wie ein Testament, schrieb ihn für sich, für Abulafia, für mich oder für wen immer, der ihn irgendwann würde lesen können. Und am Dienstag ist er dann schließlich gefahren.

Ich glaube, Belbo ist nach Paris gefahren, um denen zu sagen, dass es keine Geheimnisse gibt, dass das wahre Geheimnis darin besteht, die Zellen ihrer instinktiven Weisheit folgen zu lassen, und dass man, wenn man Geheimnisse unter der Oberfläche sucht, die Welt zu einem schmutzigen Krebsgeschwür reduziert. Und dass der Schmutzigste und der Dümmste von allen er selber war, der nichts wusste und sich alles bloß ausgedacht hatte — und es muß ihn viel gekostet haben, das zu sagen, aber er hatte sich schon zu lange mit dem Gedanken abgefunden, dass er ein Feigling war, und wie De Angelis ihm ja gerade erst wieder bewiesen hatte, gibt es nur sehr wenige Helden.

In Paris muß er dann gleich beim ersten Kontakt mit denen gemerkt haben, dass sie seinen Worten nicht glaubten. Seine Worte waren zu einfach. Diese Leute erwarteten nun eine Enthüllung, andernfalls würden sie ihn töten. Aber Belbo hatte keine Enthüllung zu machen, er hatte nur — letzte seiner Feigheiten — Angst zu sterben. Und da hatte er versucht, seine Spur zu verwischen, und hatte mich angerufen. Aber sie hatten ihn geschnappt.