Er sah mich argwöhnisch an: »Wollen Sie wissen, ob ich noch mal von der Trompete geträumt habe?«
»Nein«, sagte ich, »ich will wissen, was das Liebesobjekt war.«
»Ah«, sagte er und beugte sich wieder über sein Manuskript, »sehen Sie, auch Sie sind ganz besessen von diesem Liebesobjekt. Solche Geschichten kann man drehen, wie man will. Aber ... was, wenn ich damals die Trompete genommen hätte? Wäre ich dann tatsächlich glücklich gewesen? Was meinen Sie, Casaubon?«
»Vielleicht hätten Sie dann von der Klarinette geträumt.«
»Nein«, schloss er trocken. »Die Klarinette habe ich nur gekriegt. Ich glaube, ich habe sie nie gespielt.«
»Gespielt oder geträumt?«
»Gespielt«, sagte er mit Nachdruck, und ich weiß nicht wieso, aber ich fühlte mich wie ein Narr.
9
E finalmente altro non si inferisce cabalisticamente da vinum che VIS NUMerorum, dai quali numeri essa Magia dipende.
(Am Ende erschließt man kabbalistischerweise aus vinum nichts andere als VIS NUMerorum, die Kraft der Zahlen, von denen diese Magie abhängt.)
Cesare della Riviera, Il Mondo Magico degli Eroi, Mantova, Osanna, 1603, p. 65
Doch ich sprach von meiner ersten Begegnung mit Belbo. Wir kannten uns schon vom Sehen und hatten ein paarmal kurz bei Pilade miteinander gesprochen, aber ich wusste nicht viel von ihm, nur dass er bei Garamond arbeitete, und Bücher von Garamond waren mir hin und wieder bei meinen Studien in die Hände gefallen. Es war ein kleiner, aber seriöser Verlag. Ein junger Mann, der sich gerade anschickt, seinen Doktor zu machen, fühlt sich stets angezogen von jemandem, der in einem angesehenen Verlag arbeitet.
»Und was treiben Sie?«, fragte er mich eines Abends, als wir beide am äußersten Ende des Zinktresens lehnten, umdrängt von einem Gewühl wie auf einer großen Party. Es war die Zeit, als alle sich duzten, die Studenten die Professoren und die Professoren die Studenten. Ganz zu schweigen von den Kunden in Pilades Bar. »Zahl mir 'n Bier«, sagte der Student im Parka zum Chefredakteur der großen Tageszeitung. Man hätte meinen können, man wäre in Petersburg zur Zeit des jungen Schklowski. Lauter Majakowskis und kein einziger Schiwago. Belbo entzog sich nicht dem allgemeinen Du, aber er gab ihm einen unverkennbar verächtlichen Beiklang. Er sagte du, um zu demonstrieren, dass er auf Vulgarität mit Vulgarität reagierte, dass aber zwischen Vertraulichkeiten und Vertrautheit ein Abgrund klaffte. Nur selten und nur wenige Leute hörte ich ihn mit Zuneigung duzen, oder mit Leidenschaft — nur Diotallevi und ab und zu eine Frau. Zu denen, die er schätzte, ohne sie lange zu kennen, sagte er Sie. So tat er's mit mir während der ganzen Zeit unserer Zusammenarbeit, und ich war stolz auf das Privileg. »Und was treiben Sie?«, fragte er mich also mit, wie ich jetzt weiß, Sympathie.
»Im Leben oder im Theater?«, fragte ich mit einem Rundblick auf Pilades Bühne.
»Im Leben.«
»Ich studiere.«
»Gehen Sie an die Uni oder studieren Sie?«
»Sie werden's nicht glauben, aber das widerspricht sich nicht. Ich beende gerade eine Dissertation über die Tempelritter.«
»Oh, was für ein scheußliches Thema«, sagte er. »Ist das nicht eher was für Irre?«
»Ich studiere die echten. Die Prozessdokumente. Aber was wissen Sie denn von den Templern?«
»Ich arbeite in einem Verlag, und in einen Verlag kommen Weise und Irre. Das Metier des Lektors ist, auf Anhieb die Irren zu erkennen. Wenn einer anfängt, von den Templern zu reden, ist es meistens ein Irrer.«
»Wem sagen Sie das. Ihr Name ist Legion. Aber nicht alle Irren reden von den Templern. Woran erkennen Sie die anderen?«
»Berufserfahrung. Ich will's Ihnen erklären, Sie sind noch jung. Übrigens, wie heißen Sie eigentlich?«
»Casaubon.«
»War das nicht eine Romanfigur in Middlemarch?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls war's, glaube ich, auch ein Philologe der Renaissance. Aber ich bin nicht mit ihm verwandt«
»Lassen wir das für ein andermal. Trinken Sie noch was? Pilade, noch mal zwei, danke. Also passen Sie auf. In der Welt gibt es die Idioten, die Dämlichen, die Dummen und die Irren.«
»Sonst nichts?«
»Doch, uns zwei zum Beispiel, oder jedenfalls — ohne wen zu beleidigen — mich. Aber letzten Endes, genau besehen, gehört jeder Mensch zu einer von diesen Kategorien. Jeder von uns ist hin und wieder idiotisch, dämlich, dumm oder irre. Sagen wir, normal ist, wer diese Komponenten einigermaßen vernünftig mischt. Es sind Grundtypen.« »Idealtypen, wie die Deutschen sagen.«
»Bravo. Sie können auch deutsch?«
»Es reicht gerade so für die Bibliografien.«
»Wer zu meiner Zeit deutsch konnte, promovierte nicht mehr. Er verbrachte seine Tage damit, deutsch zu können. Heute passiert das, glaube ich, mit dem Chinesischen.«
»Ich kann's nicht gut genug, drum promoviere ich. Aber zurück zu Ihrer Typologie. Wer ist dann ein Genie, so wie Einstein zum Beispiel?«
»Genie ist, wer eine Komponente in schwindelerregende Höhen treibt, indem er sie mit den anderen nährt.«
Er trank einen Schluck und prostete einem Mädchen zu, das gerade vorbeikam: »Ciao, Bellissima, hast du noch mal Selbstmord versucht?«
»Nein«, antwortete sie. »Jetzt leb ich in einer Kommune.«
»Na prima«, sagte Belbo. Dann drehte er sich wieder zu mir: »Man kann auch kollektiven Selbstmord begehen, meinen Sie nicht?«
»Aber was ist mit den Irren?«
»Ich hoffe, Sie nehmen meine Theorie nicht für reines Gold. Ich kann nicht die ganze Welt erklären. Ich sage nur, was ein Irrer für einen Verlag ist. Die Theorie ist ad hoc entwickelt, okay?«
»Okay. Die nächste Runde ist meine.«
»Okay. Pilade, bitte mit weniger Eis. Sonst geht's direkt ins Blut.
Also. Der Idiot redet gar nicht, er sabbert bloß, er ist spastisch. Er pflanzt sich den Pudding auf die Stirn, weil er seine Bewegungen nicht koordinieren kann. Er geht auf der falschen Seite durch die Drehtür.«
»Wie macht er das?«
»Er schafft das. Drum ist er ja ein Idiot. Er interessiert uns hier nicht, man erkennt ihn sofort, und er kommt auch nicht in den Verlag. Lassen wir ihn, wo er ist.«
»Gut, lassen wir ihn.«
»Dämlich zu sein ist komplexer. Es ist ein soziales Verhalten. Dämlich ist, wer immer neben dem Glas redet.«
»Wie meinen Sie das?«
»So.« Er stieß den gestreckten Zeigefinger neben sein Whiskyglas auf den Tresen. »Er will von dem reden, was im Glas ist, aber was er auch tut, er redet daneben. Wenn Sie so wollen, um's in allgemein verständlichen Worten zu sagen: Er benimmt sich immer daneben, er ist der Typ, der sich nach dem Befinden der lieben Frau Gemahlin erkundigt, wenn einem die Frau gerade weggelaufen ist. Genügt das zur Veranschaulichung der Idee?«
»Es genügt, ich kenne den Typ.«
»Der Dämliche ist sehr gefragt, besonders bei mondänen Veranstaltungen und auf Partys. Er bringt alle in Verlegenheit, aber dann bietet er Anlässe zu Kommentaren. In seiner positiven Variante wird er Diplomat. Er redet neben dem Glas, wenn die anderen sich danebenbenommen haben, er bringt die Gespräche auf andere Themen. Aber er interessiert uns hier nicht, er ist nie kreativ, er schafft nichts selber, und daher kommt er auch nicht in die Verlage, um Manuskripte anzubieten. Der Dämliche sagt nicht, dass die Katze bellt, er spricht von Katzen, wenn die andern von Hunden reden. Er vertut sich mit den Konversationsregeln, und wenn er sich gut vertut, ist er wunderbar. Ich glaube, er ist eine aussterbende Gattung, ein Träger eminent bürgerlicher Tugenden. Er braucht einen Salon Verdurin, oder geradezu eine Maison Guermantes. Lest ihr noch diese Sachen, ihr Studenten?«