»Dir sei vergeben, denn du weißt, dass du nichts weißt«, sagte Agliè. »Geh. Doch somit, Brüder, weiß der Gefangene zu viele Dinge, die keiner von uns gewusst hat. Er weiß sogar, wer wir sind, und wir haben es von ihm erfahren. Wir müssen uns sputen, bald wird es hell werden. Während ihr hier in Meditation verharrt, werde ich mich jetzt noch einmal mit ihm zurückziehen, um ihm die Enthüllung zu entreißen.«
»Ah non, Monsieur le Comte!« Pierre war in den Halbkreis getreten, mit geweiteten Pupillen. »Zwei Tage habt Ihr gesprochen mit ihm tête-à-tête, ohne uns zu prävenieren, und er nix gesehen, nix gesagt, nix gehört, wie die drei kleine Äffchen. Was wollt Ihr ihn jetzt noch fragen, diese Nacht? Non, ici, hier vor uns allen!«
»Beruhigen Sie sich, lieber Pierre. Ich habe heute Abend diejenige herbringen lassen, die ich für die exquisiteste Inkarnation der Sophia halte, das mystische Band zwischen der Welt des Irrtums und der Höheren Achtheit. Fragen Sie mich nicht, wie und warum, aber vor dieser Mittlerin wird der Gefangene sprechen. Sag ihnen, wer du bist, Sophia.«
Und Lorenza, wie schlafwandelnd, die Worte mühsam hervorstoßend und fast skandierend: »Ich bin... die Heilige und die Hure.«
»Ah, ça c'est bien«, lachte Pierre auf. »Wir haben hier die Creme de l'Initiation und greifen zurück auf la Pute! Nein, der Mann her, sofort, hierher vor das Pendel!«
»Seien wir doch nicht kindisch«, sagte Agliè. »Gebt mir eine Stunde Zeit. Wieso glaubt Ihr, er werde hier sprechen, vor dem Pendel?«
»Er wird sprechen, indem er verblutet. Le sacrifice humain!« schrie Pierre in das Kirchenschiff.
Und laut tönte es zurück »Le sacrifice humain!«
Da trat Salon vor: »Graf, Kindereien beiseite, der Bruder hat recht. Wir sind keine Polizisten... «
»Gerade Sie dürften das nicht sagen«, murmelte Agliè.
»Wir sind keine Polizisten, und wir halten es nicht für unserer würdig, mit den gewöhnlichen Verhörmethoden vorzugehen. Aber ich glaube auch nicht, dass man den Kräften des Untergrundes mit Menschenopfern beikommt. Hätten sie uns ein Zeichen geben wollen, sie hätten es längst getan. Außer dem Gefangenen wusste noch ein anderer Bescheid, aber der ist verschwunden. Eh bien, heute Abend haben wir die Möglichkeit, diejenigen mit dem Gefangenen zu konfrontieren, die Bescheid wussten und...«, er lächelte und sah Agliè mit halbgeschlossenen Augen unter den buschigen Brauen an, »und sie auch mit uns zu konfrontieren, oder jedenfalls mit einigen von uns... «
»Was wollen Sie damit sagen, Salon?« fragte Agliè mit unsicherer Stimme.
»Wenn Herr Graf erlauben, würde ich das gerne erklären«, sagte Madame Olcott. Sie war es, ich erkannte sie von dem Plakat in der Librairie Sloane. Blasser Teint, in einem grünlichen Kleid, die Haare glänzend von Öl, im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, die Stimme tief und rau wie bei einem heiseren Mann. Schon in der Buchhandlung war mir dieses Gesicht irgendwie bekannt vorgekommen, jetzt erinnerte ich mich: es war die Druidin, die uns damals in jener Nacht auf der Wiese entgegengelaufen war. »Alex, Denys, bringt den Gefangenen her.«
Sie hatte in herrischem Ton gesprochen, das Raunen im Kirchenschiff schien ihr zuzustimmen, die beiden Riesen gehorchten und übergaben Lorenza zwei Freak Mignons, Agliè hielt die Hände um die Seitenlehnen des Stuhls geklammert und wagte nicht zu widersprechen.
Madame Olcott gab ihren kleinen Monstern ein Zeichen, und zwischen der Statue von Pascal und der Obéissante wurden drei kleine Armstühle aufgestellt, auf denen sie drei Individuen Platz nehmen ließ. Alle drei von dunklem Teint, klein von Statur, nervös, mit großen weißen Augen. »Die Drillinge Fox, Ihr kennt sie gut, Graf. Theo, Leo, Geo, setzt euch und macht euch bereit.«
In diesem Augenblick erschienen die Riesen von Avalon wieder und brachten Jacopo Belbo herein, der ihnen gerade bis an die Schultern reichte. Mein armer Freund, er war aschgrau im Gesicht, seit Tagen unrasiert, die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden, sein Hemd stand offen über der Brust Als er an diesen weihrauchgeschwängerten Ort kam, kniff er die Augen zusammen. Er schien sich nicht zu wundern über die Versammlung von Hierophanten, die er da vor sich sah, in den letzten Tagen musste er sich daran gewöhnt haben, auf alles gefasst zu sein.
Allerdings war er nicht darauf gefasst, plötzlich das Pendel vor sich zu sehen, nicht in dieser Position. Doch die beiden Riesen schleppten ihn vor den Stuhl Agliès. Vom Pendel hörte er jetzt nur das leise Sausen, das es hinter ihm machte, wenn es vorbeischwang.
Einen Moment lang drehte er sich um, und da sah er Lorenza. Er fuhr zusammen, wollte sie anrufen, versuchte sich zu befreien, aber Lorenza, die ihn stumpf anstarrte, schien ihn nicht zu erkennen.
Im selben Moment erhob sich aus dem hinteren Teil des Kirchenschiffs, wo die Kasse und die Büchertische waren, ein Trommelwirbel, begleitet von schrillen Flötentönen. Mit einem Schlag öffneten sich die Türen von vier Automobilen, und heraus kamen vier Wesen, die ich ebenfalls schon auf dem Plakat des Petit Cirque gesehen hatte.
Ein Filzhut ohne Krempe, wie ein Fez, weite schwarze, bis zum Hals geschlossene Mänteclass="underline" Les Derviches Hurleurs entstiegen den Automobilen wie Auferstandene aus ihren Gräbern und begaben sich an den Rand des Magischen Kreises, wo sie sich niederhockten. Die Flöten im Hintergrund intonierten jetzt eine sanfte Melodie, während die Derwische ebenso sanft die Hände auf den Boden schlugen und den Kopf beugten.
Aus der Kanzel des Breguet-Flugzeugs erhob sich, wie ein Muezzin auf dem Minarett, ein fünfter Heulender Derwisch und begann zu psalmodieren, in einer mir unbekannten Sprache, seufzend, klagend, mit schrillen Tönen, indes die Trommeln wieder lauter zu wirbeln begannen.
Madame Olcott beugte sich hinter die Gebrüder Fox und flüsterte ihnen etwas ins Ohr. Die drei versanken in ihren Armsesseln, die Hände fest um die Lehnen geklammert, die Augen geschlossen, und begannen zu schwitzen und heftig mit allen Gesichtsmuskeln zu zucken.
Madame Olcott wandte sich an die Versammlung der Würdenträger. »Jetzt werden meine drei braven Brüderchen drei Personen herholen, die Wissende waren.« Sie machte eine Pause, dann verkündete sie: »Edward Kelley, Heinrich Khunrath und...«, erneute Pause, »der Graf von Saint-Germain.«
Zum ersten Mal sah ich Agliè die Selbstbeherrschung verlieren. Er sprang von seinem Stuhl auf, und schon das war ein Fehler. Dann stürzte er sich der Frau entgegen — beinahe nur zufällig stieß er nicht mit dem Pendel zusammen — und schrie: »Viper, Lügnerin, du weißt genau, dass es nicht sein kann... « Und zu der Menge gewandt: »Schwindel! Betrug! Stoppt sie!«
Aber niemand rührte sich, im Gegenteil, Pierre ging hin, setzte sich auf den Stuhl und sagte: »Bitte sehr, fahren Sie fort, Madame.«
Agliè fasste sich wieder. Er gewann seine Kaltblütigkeit zurück, trat beiseite zwischen die Zuschauer und sagte herausfordernd: »Na los, sehen wir's uns an.«
Madame Olcott hob den Arm, als gäbe sie das Startzeichen zu einem Rennen. Die Musik wurde immer lauter und hektischer, zerfiel in eine Kakofonie von Dissonanzen, die Trommeln wirbelten ohne Rhythmus, die Derwische, die schon begonnen hatten, den Oberkörper vor-und zurückzubewegen, nach rechts und nach links, sprangen auf, warfen die Mäntel ab und hielten die Arme starr ausgebreitet, als wollten sie zum Fluge abheben. Nach einem Moment der Reglosigkeit begannen sie sich auf einmal wirbelnd um sich selbst zu drehen, wobei sie den linken Fuß als Achse benutzten, das Gesicht hochgereckt, konzentriert und versunken, während ihre plissierten Jäckchen sich glockenförmig zu den Pirouetten erhoben, so dass sie aussahen wie Blumen in einem Wirbelwind.