Agliè hatte sich unterdessen in den Chorumgang begeben, wischte sich den Schweiß von der Stirn mit dem kleinen Taschentuch, das seine Brusttasche zierte, holte zweimal tief Luft und steckte sich eine weiße Pille in den Mund. Dann hob er Ruhe gebietend die Hand.
»Brüder, Ritter. Ihr habt gesehen, was für Erbärmlichkeiten uns diese Frau hat vorsetzen wollen. Besinnen wir uns und kommen wir auf meinen Vorschlag zurück Gebt mir eine Stunde Zeit, den Gefangenen hinüberzubringen.«
Madame Olcott war ausgeschaltet, stumm beugte sie sich über ihre drei Medien in einem fast menschlichen Schmerz. Aber Pierre, der das Schauspiel vom Lehnstuhl aus verfolgt hatte, nahm jetzt die Situation wieder in die Hand. »Non!« sagte er entschieden. »Es gibt nur ein Mittel. Le sacrifice humain! Das Menschenopfer! Her mit dem Gefangenen!«
Hypnotisiert von seiner Energie packten die beiden Riesen Belbo, der die Szene reglos verfolgt hatte, und stießen ihn vor Pierre. Dieser, flink wie ein Taschenspieler, sprang auf, stellte den Stuhl auf den Tisch, schob diesen in die Mitte des Chorraums, packte das Pendel im Fluge und stoppte die Kugel, deren Gewicht ihn ein paar Schritte zurückweichen ließ. Es ging alles im Nu: Als folgten sie einem Plan — und vielleicht hatte es während des Durcheinanders ja wirklich eine Absprache gegeben —, sprangen die beiden Riesen auf den Tisch, hoben Belbo auf den Stuhl, der eine legte das Seil des Pendels zweimal um Belbos Hals, während der andere die Kugel hochhielt, um sie dann vorsichtig auf den Tischrand zu legen.
Bramanti stürzte sich vor diesen Galgen, glühend vor Majestät in seinem scharlachroten Mantel, und psalmodierte: »Exorcizo igitur te per Pentagrammaton, et in nomine Tetragrammaton, per Alpha et Omega qui sunt in spiritual Azoth. Saddai, Adonai, Jotchavah, Eieazereie! Michael, Gabriel, Raphael, Anael. Fluat Udor per spiritum Elohim! Maneat Terra per Adam Iot-Cavah! Per Samael Zebaoth et in nomine Elohim Gibor, veni Adramelech! Vade retro Lilith!«
Belbo stand aufrecht auf dem Stuhl mit dem Strick um den Hals. Die Riesen brauchten ihn nicht mehr festzuhalten. Wenn er nur eine einzige falsche Bewegung machte, würde er aus dieser labilen Position zu Boden stürzen, und die Schlinge würde ihn erdrosseln.
»Idioten!« schrie Agliè. »Wie bringen wir's jetzt wieder richtig in Gang?« Er dachte nur an die Rettung des Pendels.
Bramanti lächelte. »Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Herr Graf. Hier mischen wir nicht Ihre Tinkturen. Dies hier ist das Pendel, wie es von ihnen konzipiert worden ist. Es wird schon wissen, wie es zu pendeln hat. Und in jedem Falle: um eine Kraft zum Handeln zu bringen, ist nichts besser als ein Menschenopfer.«
Bis zu diesem Moment hatte Belbo gezittert. Jetzt sah ich ihn sich entspannen, ich sage nicht, sich beruhigen, aber er betrachtete nun die Szene mit Neugier. Ich glaube, in diesem Moment hatte er, angesichts des Streits zwischen seinen beiden Gegnern, vor sich die verrenkten Körper der drei Medien, rechts und links die noch keuchenden und zuckenden Derwische, dahinter die Insignien der aufgelösten Würdenträger, seine authentischste Gabe wiedergefunden: den Sinn für das Lächerliche.
In diesem Moment, ich bin sicher, beschloss er, sich niemals wieder angst machen zu lassen. Vielleicht gab ihm seine erhöhte Position ein Gefühl der Überlegenheit, während er diese Versammlung von Besessenen betrachtete, die sich da vor ihm eine Fehde wie im Kasperltheater lieferten, während im Hintergrund, fast schon im Eingangsraum, die kleinen Monster, die sich nicht mehr für das Geschehen im Chor interessierten, einander feixend Rippenstöße versetzten, wie Annibale Cantalamessa und Pio Bo.
Nur einmal schaute er besorgt zu Lorenza hinüber, die wieder von den zwei Riesen gehalten wurde und sich in heftigen Zuckungen wand. Sie hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Sie weinte.
Ich weiß nicht, ob Belbo beschlossen hatte, ihr seine Angst nicht zu zeigen, oder ob seine Entscheidung nicht eher die einzige Art war, in der er seine Verachtung für diese wüste Horde und seine Überlegenheit ausdrücken konnte. Er stand aufrecht, den Kopf erhoben, das Hemd offen über der Brust, die Hände im Rücken zusammengebunden, stolz, als hätte er niemals Angst empfunden.
Beruhigt durch Belbos Ruhe, jedenfalls resigniert den Stillstand des Pendels hinnehmend, noch immer begierig, das Geheimnis zu erfahren, vermeintlich am Ziel seiner lebenslangen (oder viele Leben langen) Suche, zugleich entschlossen, seine Anhänger wieder in die Gewalt zu bekommen, wandte Agliè sich erneut an Jacopo: »Kommen Sie, Belbo, besinnen Sie sich. Sie sehen doch, Sie befinden sich in einer, um das mindeste zu sagen, unangenehmen Lage. Also hören Sie auf mit Ihrem Theater.«
Belbo erwiderte nichts. Er schaute woandershin, als wollte er diskret ein Gespräch überhören, das ihm zufällig an die Ohren drang.
Agliè insistierte, konziliant, als spräche er mit einem Kind: »Ich verstehe ja Ihre Verärgerung und, wenn Sie gestatten, Ihre Reserve. Ich begreife, dass es Sie anwidert, ein so intimes und eifersüchtig bewahrtes Geheimnis nun einem Pöbel anzuvertrauen, der eben erst ein so wenig erbauliches Schauspiel gegeben hat. Eh bien, Sie können Ihr Geheimnis auch mir ganz allein anvertrauen, flüstern Sie mir's ins Ohr. Ich lasse Sie jetzt heruntersteigen, und ich weiß, dass Sie mir ein Wort sagen werden, ein einziges Wort.«
Und Belbo: »Sie meinen?«
Da wechselte Agliè den Ton. Zum ersten Mal sah ich ihn gebieterisch, priesterlich, hieratisch. Er sprach, als trüge er eines der ägyptischen Gewänder seiner Freunde. Ich bemerkte die Falschheit seines Tons, es schien, als parodierte er diejenigen, denen gegenüber er nie mit seiner nachsichtigen Verachtung gegeizt hatte. Zugleich aber sprach er mit der vollen Autorität seiner neuen Rolle. Aus irgendwelchen besonderen Gründen — denn es konnte nicht unbewusst sein — gab er der Szene einen melodramatischen Anstrich. Wenn er spielte, spielte er gut, denn Belbo schien keinen Betrug zu bemerken und hörte ihm zu, als ob er nichts anderes von ihm erwartet hätte.
»Jetzt wirst du sprechen«, sagte Agliè. »Du wirst sprechen und wirst nicht draußen bleiben in diesem Großen Spiel. Schweigst du, bist du verloren. Sprichst du, hast du teil an dem Sieg. Denn wahrlich, ich sage dir, diese Nacht bist du, bin ich, sind wir alle in Hod, der Sefirah des Glanzes, der Majestät und der Glorie, in Hod, das die zeremoniale und rituelle Magie regiert, in Hod, dem Augenblick, da sich die Ewigkeit auftut. Von diesem Augenblick habe ich jahrhundertelang geträumt. Du wirst sprechen und wirst dich mit den einzigen vereinen, die sich, nach deiner Enthüllung, als Herren der Welt bezeichnen können. Erniedrige dich, und du wirst erhöht werden. Du sprichst, weil ich es dir befehle, du sprichst, weil ich es sage, und meine Worte efficiunt quod figurant! (bewirken, was sie abbilden)«
Da sagte Belbo, nun unbesiegbar: »Ma gavte la nata...«
Agliè, der vielleicht auf eine Weigerung gefasst war, erbleichte ob der Beleidigung. »Was hat er gesagt?« fragte Pierre hysterisch. »Nichts, er wird nicht sprechen«, antwortete Agliè, breitete die Arme aus mit einer halb resignierten, halb herablassenden Gebärde und sagte zu Bramanti: »Er gehört euch.«
Und Pierre, außer sich: »Assez, assez, le sacrifice humain, le sacrifice humain!«
»Ja, sterben soll er, wir finden die Antwort auch so!« kreischte, ebenfalls außer sich, Madame Olcott, die wieder hervorgetreten war und sich nun auf Belbo stürzte.
Fast gleichzeitig bewegte sich Lorenza. Sie riss sich aus dem Griff der Riesen los, stellte sich vor Belbo unter den Galgen, breitete die Arme aus, wie um eine Invasion aufzuhalten, und schrie unter Tränen: »Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden, das könnt ihr doch nicht machen!« Agliè, der sich schon zurückziehen wollte, blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, dann lief er zu ihr, um sie fortzuziehen.