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Es gab keinen Doktor Wagner in Nummer sieben. Dann war's vielleicht die Nummer siebzehn? Oder siebenundzwanzig? Ich machte zwei, drei Versuche, dann überlegte ich: Selbst wenn ich das richtige Haus gefunden hätte, wollte ich etwa wirklich um diese Zeit den Doktor Wagner aus dem Bett klingeln, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Ich war aus demselben Grund hier gelandet, aus dem ich von der Porte Saint-Martin bis zur Place des Vosges geirrt war. Ich war auf der Flucht. Und jetzt war ich von dem Ort geflohen, zu dem ich auf der Flucht aus dem Conservatoire geflohen war. Ich brauchte keinen Psychoanalytiker, ich brauchte eine Zwangsjacke. Oder eine Schlafkur. Oder Lia. Daß sie meinen Kopf hielte, ihn fest zwischen ihre Brust und ihre Achsel drückte und leise sagte, ich solle ruhig sein.

Hatte ich überhaupt zu Doktor Wagner gewollt, oder war das, was ich suchte, nicht eher die Avenue Elisée Reclus gewesen? Denn jetzt erinnerte ich mich: auf den Namen war ich im Zuge meiner Lektüre für den Großen Plan gestoßen, es war jemand, der im vorigen Jahrhundert ich weiß nicht mehr welches Buch über die Erde geschrieben hatte, über den Untergrund und die Vulkane, jemand, der unter dem Vorwand, wissenschaftliche Geografie zu betreiben, die Nase in den Mundus Subterraneus gesteckt hatte. Einer von ihnen also. Ich war auf der Flucht vor ihnen und fand mich doch ständig von ihnen umgeben. Stück für Stück hatten sie im Laufe von wenigen hundert Jahren ganz Paris besetzt. Und den Rest der Welt.

Ich musste zurück ins Hotel. Würde ich hier noch ein Taxi finden? Womöglich war ich jetzt irgendwo draußen in der Banlieue. Ich ging in die Richtung, in der ich den Nachthimmel etwas heller und offener sah. Die Seine?

Und da, als ich an die Ecke kam, sah ich ihn.

Links von mir. Ich hätte mir denken können, dass er da war, dass er da irgendwo in der Nähe lauerte, in dieser Stadt enthalten die Straßennamen unverkennbare Botschaften, man wird immer vorgewarnt, mein Pech, dass ich nicht darauf geachtet hatte.

Da stand er, der metallene Riesenmenhir auf den Beinen einer grässlichen eisernen Spinne, das Symbol und Instrument ihrer Macht! Ich hätte fliehen sollen, statt dessen zog es mich zu dem Gitternetz hin, ich hob und senkte den Kopf, denn aus dieser Nähe konnte ich das Monster nicht mehr mit einem einzigen Blick erfassen, ich war praktisch innen drin, zersäbelt von seinen tausend scharfen Kanten, ich fühlte mich bombardiert von Drahtnetzen, die allseits herunterfielen, hätte das Riesentier sich nur ein kleines bisschen bewegt, es hätte mich zerquetschen können mit einer seiner Meccano-Pranken.

Der Eiffelturm. Ich war an dem einzigen Punkt der Stadt, an dem man ihn nicht von weitem sieht, im Profil, wie er sich freundlich über das Meer der Dächer erhebt, leicht wie auf einem Bild von Dufy. Er ragte direkt vor mir auf, er schwebte über mir. Ich erahnte seine Spitze, aber nachdem ich ihn einmal umkreist hatte, trat ich unter ihn, zwischen die Beine, und sah die Strumpfbänder, den Bauch, die Genitalien, erahnte die verschlungenen Gedärme, die sich schwindelerregend nach oben mit der Speiseröhre vereinten in seinem polytechnischen Giraffenhals. Perforiert wie er war, hatte er die Macht, das Licht ringsum zu verdunkeln, und je nachdem, wie ich mich bewegte, bot er mir in verschiedenen Perspektiven verschiedene Rautenformen als Rahmen für Zooms in die Dunkelheit.

Rechts war jetzt im Nordosten, noch niedrig über dem Horizont, eine Mondsichel aufgegangen. Manchmal rahmte der Turm sie mir ein, so dass sie aussah wie eine optische Täuschung, ein fluoreszierender Lichtreflex auf einem der rautenförmigen Bildschirme, die sein Gitterwerk bildete, aber ich brauchte bloß einen Schritt zu tun, schon änderte sich die Form der Bildschirme und die Mondsichel war nicht mehr da, hatte sich irgendwo zwischen den metallenen Rippen verfangen, das Tier hatte sie verschluckt, verdaut, in einer anderen Dimension aufgehen lassen.

Tesserakt. Vierdimensionaler Kubus. Jetzt sah ich durch einen Bogen ein blinkendes Licht, nein zwei, ein rotes und ein weißes, sicher ein Flugzeug auf dem Weg nach Roissy oder Orly, was weiß ich. Aber gleich darauf — hatte ich mich bewegt, oder das Flugzeug, oder der Turm? — waren die Lichter hinter einer Rippe verschwunden, ich wartete, um sie im nächsten Rahmen wieder auftauchen zu sehen, und sie blieben verschwunden. Der Turm hatte hundert Fenster, die alle beweglich waren, und jedes ging auf ein anderes Segment der Raum-Zeit. Seine Rippen formten keine euklidischen Kurven, sie zerrissen das Gewebe des Kosmos, verkehrten Katastrophen, blätterten Seiten paralleler Welten um.

Wer hatte gesagt, dass diese Nadel-Fiale von Notre-Dame de la Brocante dazu diene, Paris am Plafond des Universums aufzuhängen, »suspendre Paris au plafond de l'univers«? Im Gegenteil, der Eiffelturm lässt das Universum an seiner Spitze schweben — natürlich, schließlich ist er das Gegenstück zum Pendel!

Wie hatte man ihn genannt? Einsames Suppositorium, hohler Obelisk, Triumph des Eisendrahtes, Apotheose des Pfeilers, luftiger Götzenaltar, Biene im Herzen der Windrose, trist wie eine Ruine, hässlicher nachtfarbener Koloss, missgestaltes Symbol einer nutzlosen Kraft, absurdes Wunder, sinnlose Pyramide, Gitarre, Tintenfass, Teleskop, langatmig wie eine Ministerrede, antiker Gott und moderne Bestie... Dies alles und andres war er, und wenn ich den sechsten Sinn der Herren der Welt gehabt hätte, so hätte ich, nun, da ich eingebunden war in seine polypenverkrusteten Stimmbänder, ihn heiser die Sphärenmusik wispern hören, der Turm war in diesem Moment dabei, Wellen aus der hohlen Erde zu saugen und sie an alle Menhire der Welt auszusenden. Rhizom vernagelter Gelenke, zervikale Arthrose, Prothese einer Prothese — was für ein Horror, von da, wo ich war, hätten sie, um mich in den Abgrund zu schmettern, mich zur Spitze hinaufschleudern müssen. Sicher kam ich gerade von einer Reise durchs Zentrum der Erde zurück, ich schwankte noch im antigravitationalen Taumel der Antipoden.

Nein, wir hatten nicht fantasiert, der Turm erschien mir jetzt als der unheimliche Beweis für die Wahrheit des Großen Plans, aber bald würde er merken, dass ich der Spion war, der Feind, das Sandkorn in dem Getriebe, dessen Abbild und Motor er war, und dann würde er unmerklich eine Raute seiner bleiernen Klöppelspitzen nach unten verlängern und mich aufschlucken, ich würde in einer Falte seines Nichts verschwinden wie vorhin das Flugzeug, transferiert in ein Anderswo.

Wäre ich nur noch ein wenig länger da unter seiner durchbrochenen Wölbung geblieben, seine großen Krallen hätten sich zusammengezogen, hätten sich wie Klauen um mich gebogen und mich zermalmt, und dann hätte das Tier wieder seine übliche tückische Position eingenommen: als ein mörderischer und sinistrer Bleistiftanspitzer.

Noch ein Flugzeug. Diesmal kam es von nirgendwoher, der Turm hatte es zwischen seinen fleischlosen mastodontischen Wirbeln erzeugt. Ich betrachtete ihn, er nahm kein Ende, wie das Projekt, für das er geboren war. Wenn ich geblieben wäre, ohne verschlungen zu werden, hätte ich seine Veränderungen verfolgen können, seine langsamen Umdrehungen, seine infinitesimalen De-und Rekompositionen unter dem kalten Anhauch der Strömungen, vielleicht verstanden die Herren der Welt ihn als eine geomantische Zeichnung zu deuten, in seinen unmerklichen Metamorphosen hätten sie eindeutige Signale gelesen, unnennbare Aufträge. Der Turm drehte sich über mir wie ein Schraubenzieher des Mystischen Pols. Oder nein, er stand unbeweglich da wie ein magnetisierter Zapfen und ließ das Himmelsgewölbe um sich rotieren. Das Schwindelgefühl war dasselbe.