Wie gut der Turm sich zu tarnen weiß, sagte ich mir: Aus der Ferne winkt er dir freundlich zu, aber wenn du dich ihm näherst und in sein Geheimnis einzudringen versuchst, tötet er dich, er lässt deine Knochen gefrieren, einfach indem er den sinnlosen Horror vorzeigt, aus dem er gemacht ist. Jetzt weiß ich, dass Belbo tot ist und dass der Große Plan wahr ist, denn wirklich und wahr ist der Turm. Wenn es mir nicht gelingt zu fliehen, noch einmal zu fliehen, kann ich es niemandem sagen. Ich muß Alarm schlagen!
Motorengeräusch. Halt, zurück in die Realität. Ein Taxi, es kam sehr rasch näher. Mit einem Sprung gelang es mir, mich aus dem magischen Kreis zu retten, ich winkte mit beiden Armen, fast wäre ich unter die Räder gekommen, weil der Fahrer erst im letzten Augenblick bremste, als ob er es ungern täte... Unterwegs gestand er mir dann, dass auch ihm, wenn er nachts vorbeikomme, der Turm angst mache, und dann gebe er Gas. »Warum?« fragte ich. »Parce que... parce que ça fait peur, c’est tout. (Weil... das macht angst, das ist alles.)
Kurz darauf war ich am Hotel, aber ich musste lange klingeln, bis mir ein schläfriger Nachtportier aufmachte. Jetzt erst mal schlafen, sagte ich mir. Alles weitere morgen. Ich nahm ein paar Tabletten, genug, um mich zu vergiften. Dann erinnere ich mich an nichts mehr.
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Die Narrheit hat ein großes Zelt; Es lagert bei ihr alle Welt, Zumal wer Macht hat und viel Geld.
Sebastian Brant, Das Narrenschiff, 46
Um zwei Uhr nachmittags wachte ich auf, benommen und steif. Ich erinnerte mich genau an alles, aber nichts sagte mir, ob das, was ich in Erinnerung hatte, wirklich geschehen war. Im ersten Moment wollte ich hinunterlaufen, um nur Zeitungen zu holen, aber dann sagte ich mir, dass in jedem Fall, selbst wenn eine Kompanie von Spahis gleich nach dem Geschehen das Conservatoire gestürmt hätte, die Meldung nicht mehr rechtzeitig für die Morgenblätter gekommen wäre.
Außerdem hatte Paris an diesem Tag anderes im Kopf. Der Portier sagte es mir sofort, als ich zum Kaffeetrinken herunterkam. Die Stadt sei in Aufruhr, viele Metrostationen seien geschlossen, an einigen Stellen habe die Polizei gewaltsam gegen die Menge vorgehen müssen, die Studenten seien zu viele und manche gingen zu weit.
Im Telefonbuch fand ich die Nummer von Doktor Wagner. Ich probierte sie, aber natürlich war er am Sonntag nicht in seiner Praxis. Ich musste sowieso erst ins Conservatoire, um mich zu vergewissern, und Sonntag nachmittags war es ja offen.
Das Quartier Latin brodelte. Lärmende Gruppen mit Fahnen zogen vorbei. Auf der Ile de la Cité war eine Polizeisperre. In der Ferne hörte man Schüsse. So ähnlich musste es Achtundsechzig gewesen sein. In Höhe der Sainte Chapelle hatte es Zoff gegeben, es roch nach Tränengas. Ich hörte Geschrei und Getrappel, es klang wie ein Angriff, ich wusste nicht, ob es Studenten waren oder die Flics, die Leute um mich herum fingen an zu rennen, wir flüchteten uns hinter eine Absperrung mit einem Polizeikordon davor, während es auf der Straße zu Handgreiflichkeiten kam. Was für eine Schande: da war ich nun unter den bejahrten Bourgeois, die abwarteten, dass die Revolution sich legte!
Dann war der Weg frei, ich ging durch Nebenstraßen im alten Hallenviertel, bis ich wieder zur Rue Saint-Martin gelangte. Das Conservatoire war geöffnet, friedlich stand es da mit seinem kleinen weißen Vorhof, an der Fassade die Plakette: »Le Conservatoire des Arts et Métiers, institué par décret de la Convention du 19 Vendémiaire An III... dans le bâtiment de l’ancien prieuré de Saint-Martin-des-Champs fondé au 11ème siècle.« Alles normal, mit einer kleinen sonntäglichen Menge, die sich im Eingang drängte, unbeeindruckt von der studentischen Kirmes.
Ich trat ein — sonntags gratis —, und alles war wie am Nachmittag zuvor. Die Wärter, die Besucher, das Pendel an seinem gewohnten Ort... Ich suchte nach Spuren dessen, was geschehen war, aber wenn es geschehen war, hatte jemand gewissenhaft sauber gemacht. Wenn es geschehen war.
Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Nachmittags verbrachte. Ich weiß nicht mal mehr, was ich sah, als ich durch die Straßen irrte, immer wieder gezwungen, in Seitengassen abzubiegen, um Tumulten auszuweichen. Ich rief in Mailand an, nur um nichts unversucht zu lassen, wählte beschwörend, wie um das Unheil zu bannen, erst Belbos Nummer, dann die von Lorenza. Dann die des Verlags, wo um diese Zeit niemand sein konnte.
Und dabei, wenn jetzt noch heute ist, war das alles erst gestern gewesen. Aber von vorgestern Abend bis heute Nacht ist eine Ewigkeit vergangen.
Gegen Abend merkte ich, dass ich Hunger hatte. Ich wollte Ruhe, nur Ruhe und ein bisschen Komfort. Am Forum des Halles fand ich ein Restaurant, das mir Fisch versprach. Es bot dann sogar zu viel davon. Mein Tisch stand genau vor einem Aquarium. Eine hinreichend irreale Welt, um mich erneut in ein Klima des absoluten Argwohns zu stürzen. Nichts ist zufällig. Der Fisch da sieht aus wie ein asthmatischer Hesychast, der den Glauben verliert und Gott anklagt, den Sinn des Universums verringert zu haben. Oh, Herre Zebaoth, Zebaoth, wie kannst du nur so gemein sein, mich glauben zu machen, dass du nicht existierst? Wie ein Krebsgeschwür breitet das Fleisch sich über die Welt... Und jener andere Fisch da, der sieht aus wie Minnie, er klappert mit langen Wimpern und zieht eine herzförmige Schnute. Min-nie ist die Verlobte von Mickymaus. Ich esse salade folle mit einer Scholle so zart wie Babyfleisch. Mit Honig und Pfeffer. Die Paulizianer sind unter uns. Der Fisch dort gleitet durch die Korallen wie das Flugzeug von Breguet — lange Flügelschläge wie ein Lepidopterus, hundert zu eins, dass er seinen Homunkulus-Fötus verlassen am Grund eines gläsernen Kolbens erspäht hat, in einem Athanor, der nun zerbrochen im Müll vor dem Haus von Nicolas Flamel liegt. Und dort drüben ein Templerfisch, ganz in Schwarz gepanzert, auf der Suche nach Noffo Dei. Er streift den asthmatischen Hesychasten, der gedankenverloren und grimmig dem Unsagbaren entgegenschwimmt. Ich wende den Blick ab, sehe durchs Fenster, und auf der anderen Straßenseite fällt mir das Schild eines anderen Restaurants ins Auge, CHEZ R... Rose-Croix? Reuchlin? Rosispergius? Ratschkowskiragotzitzarogi? Signaturen, Signaturen...
Überlegen wir mal. Die einzige Art, den Teufel in Verlegenheit zu bringen, ist bekanntlich, ihn glauben zu machen, dass man nicht an ihn glaubt. An meiner nächtlichen Flucht durch Paris war überhaupt nichts Ungewöhnliches, auch nicht an meiner Vision des Eiffelturms. Aus dem Conservatoire zu kommen, nach allem, was ich dort gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, und die Stadt als einen einzigen Albtraum zu erleben, war normal. Aber was hatte ich im Conservatoire gesehen?
Ich musste unbedingt mit Doktor Wagner sprechen. Keine Ahnung, wieso ich mir in den Kopf gesetzt hatte, dies werde das Allheilmittel sein, aber so war es. Sprechtherapie.
Wie habe ich den restlichen Abend verbracht? Ich glaube, ich bin in ein Kino gegangen, wo The Lady From Shanghai von Orson Welles gezeigt wurde. Als die Szene mit den Spiegeln kam, habe ich's nicht mehr ausgehalten und bin gegangen. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht habe ich das nur geträumt.
Heute morgen um neun habe ich dann bei Doktor Wagner angerufen. Der Name Garamond half mir, die Barriere der Sekretärin zu überwinden, der Doktor schien sich an mich zu erinnern, und angesichts der Dringlichkeit meines Falles, die ich ihm zu verstehen gab, sagte er, ich solle gleich kommen, um halb zehn, vor den anderen Patienten. Er klang freundlich und verständnisvoll.
Habe ich auch den Besuch bei Doktor Wagner nur geträumt? Die Sekretärin ließ sich meine Personalien geben, legte eine Karteikarte an und kassierte das Honorar. Zum Glück hatte ich das Ticket für den Rückflug schon in der Tasche.
Ein Sprechzimmer in bescheidenen Dimensionen, ohne Couch. Fenster zur Seine, links die Silhouette des Eiffelturms. Doktor Wagner empfing mich mit professioneller Liebenswürdigkeit — recht so, dachte ich, schließlich war ich jetzt nicht einer seiner Lektoren, sondern ein Patient. Mit einer weitausholenden Geste ließ er mich vor seinem Schreibtisch Platz nehmen, wie ein Chef, der einen Angestellten empfängt. »Et alors?« sagte er, gab seinem Drehsessel einen Stoß und kehrte mir den Rücken zu. Den Kopf hielt er gebeugt und die Hände, wie mir schien, gefaltet. Mir blieb nichts anderes mehr, als zu sprechen.