Und ich sprach, ich redete wie ein Wasserfall, ich holte alles hervor, von Anfang bis Ende — was ich vor zwei Jahren gedacht hatte, was ich letztes Jahr dachte, was ich dachte, dass Belbo gedacht hätte, und Diotallevi. Vor allem aber, was in der Johannisnacht passiert war.
Wagner unterbrach mich kein einziges Mal, nickte nie, gab weder Zustimmung noch Missbilligung zu erkennen. So wie er dasaß, hätte er in tiefen Schlaf gesunken sein können. Aber das musste seine Technik sein. Und ich sprach und sprach. Sprechtherapie.
Dann wartete ich, dass er sprach, wartete auf sein erlösendes Wort.
Wagner stand auf, sehr langsam. Ging, ohne mich anzusehen, um den Schreibtisch herum und trat ans Fenster. Blieb dort stehen und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt, gedankenverloren.
Schweigend, zehn, fünfzehn Minuten lang.
Dann, ohne sich umzudrehen, in einem neutralen, gelassenen, beruhigenden Ton: » Monsieur, vous êtes fou. (Mein Herr, sie sind verrückt).«
Er blieb reglos, ich ebenfalls. Nach weiteren fünf Minuten begriff ich, dass nichts mehr kommen würde. Ende der Sitzung.
Ich ging grußlos hinaus. Die Sekretärin schenkte mir ein breites Lächeln, dann stand ich wieder auf der Avenue Elisée Reclus.
Es war elf. Ich holte meine Sachen aus dem Hotel und fuhr zum Flughafen raus, auf gut Glück. Ich musste zwei Stunden warten, und währenddessen rief ich im Verlag an, mit R-Gespräch, weil ich kein Geld mehr hatte. Gudrun war am Apparat, sie schien noch begriffsstutziger als gewöhnlich, ich musste ihr dreimal laut zurufen, sie solle ja sagen, oui, yes, sie nehme das Gespräch an.
Sie schluchzte: Diotallevi war am Samstag um Mitternacht gestorben.
»Und keiner, keiner von seinen Freunden war heute morgen bei der Beerdigung, so eine Schande! Nicht mal der Signor Garamond, er ist angeblich auf einer Auslandsreise. Nur ich, die Grazia, Luciano und ein Herr ganz in Schwarz, mit Bart und gelockten Koteletten und einem großem Hut, sah aus wie ein Totengräber. Gott weiß, wo der herkam. Aber wo stecken Sie denn, Casaubon? Und wo ist Belbo? Was ist passiert?«
Ich murmelte ein paar wirre Entschuldigungen und hängte ein. Mein Flug wurde aufgerufen, ich musste an Bord.
9. Jessod
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The conspiracy theory of society... comes from abandoning God and then asking: »Who is in his place?«
(Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft... kommt aus der Abkehr von Gott und der daraus resultierenden Frage: »Wer ist an seine Stelle getreten?«)
Karl Popper, Conjectures and Refutations, 4, London, Routledge, 1969, p.
Der Flug tat mir gut. Ich hatte nicht nur Paris verlassen, sondern auch den Untergrund, ja den festen Grund und Boden, die Erdkruste. Himmel und Berge waren noch weiß von Schnee. Die Einsamkeit in zehntausend Metern Höhe, und dieses Gefühl der Trunkenheit, das man beim Fliegen immer hat, der Überdruck, die Durchquerung einer leichten Turbulenz. Nur hier oben, dachte ich, bekam ich endlich wieder Boden unter die Füße. Und so beschloss ich, Klarheit zu gewinnen, erst indem ich mir Fakten notierte, dann indem ich die Augen schloss und meinen Gedanken freien Lauf ließ.
Zunächst einmal galt es, eine Liste der unbestreitbaren Tatsachen aufzustellen.
Erstens: Diotallevi ist tot, das steht zweifelsfrei fest. Gudrun hat es mir gesagt. Gudrun ist in unserer Geschichte immer draußen geblieben, sie hätte nichts davon verstanden, und folglich ist sie die einzige, die noch die Wahrheit sagt. Weiter steht fest, dass Garamond nicht in Mailand war. Sicher, er könnte überall sein, aber die Tatsache, dass er nicht dort ist und in den letzten Tagen nicht dort war, erlaubt die Annahme, dass er in Paris war, wo ich ihn gesehen habe.
Desgleichen ist Belbo nicht da.
Nun, versuchen wir einmal anzunehmen, was ich am Samstag Abend in Saint-Martin-des-Champs gesehen habe, ist wirklich geschehen. Vielleicht nicht so, wie ich es wahrgenommen habe, benebelt von der Musik und dem Weihrauch, aber irgendwas ist da geschehen. So ähnlich wie damals die Geschichte mit Amparo: Als sie an jenem Abend in Rio nach Hause kam, war sie keineswegs sicher, von der Pomba Gira ergriffen worden zu sein, aber sie war sicher, in dem Umbanda-Tempel gewesen zu sein und geglaubt zu haben, dass — oder sich so verhalten zu haben, als ob — die Göttin in sie gefahren wäre.
Richtig war schließlich auch, was mir Lia in den Bergen gesagt hatte, ihre Lesart war absolut überzeugend, die Botschaft aus Provins war eine harmlose Wäscheliste. Es hat nie Templerversammlungen in der Grange-aux-Dimes gegeben. Es hat keinen Großen Plan und keine Botschaft gegeben.
Für uns war die Wäscheliste ein Kreuzworträtsel gewesen, in dem die Kästchen noch leer waren und die Wortdefinitionen fehlten. Also mussten die Kästchen so ausgefüllt werden, dass alles zusammenpasste. Aber vielleicht ist das Beispiel ungenau. Im Kreuzworträtsel überkreuzen sich Wörter, und sie müssen sich dort überkreuzen, wo sie gemeinsame Buchstaben haben. In unserem Spiel überkreuzten sich keine Wörter, sondern Begriffe und Fakten, und folglich mussten die Regeln andere sein, und letztlich waren es drei.
Erste Regeclass="underline" Die Begriffe verbinden sich per Analogie. Es gibt keine Regel, die auf Anhieb zu entscheiden erlaubt, ob eine Analogie gut oder schlecht ist, denn jedes Ding ähnelt jedem anderen unter einem bestimmten Aspekt. Beispieclass="underline" Kartoffel überkreuzt sich mit Apfel, da beides essbare Gewächse sind und beide außerdem rund. Von Apfel kommt man durch biblische Assoziation zu Schlange. Von Schlange durch formale Ähnlichkeit zu Kringel, von Kringel weiter zu Rettungsring, von da zu Badeanzug, vom Baden zum Meer, vom Meer zum Schiff, vom Schiff zum Shit, vom Shit zur Droge, von der Droge zur Spritze, von der Spritze zum Loch, vom Loch zum Boden, vom Boden zum Acker, vom Acker zur Kartoffel.
Perfekt. Denn die zweite Regel heißt: Wenn der Kreis sich am Ende schließt und tout se tient, ist das Spiel gültig. Von Kartoffel zu Kartoffel schließt sich der Kreis. Also ist die Kette richtig.
Dritte Regeclass="underline" Die Verknüpfungen dürfen nicht zu originell sein, sie müssen schon mindestens einmal irgendwo gemacht worden sein, besser noch öfter, von anderen. Nur so erscheinen die Kreuzungen wahr, weil selbstverständlich.
Was ja übrigens die Idee von Signor Garamond war: Die Bücher der Diaboliker dürfen nichts Neues sagen, sie müssen das schon Gesagte immerzu wiederholen, was würde sonst aus der Kraft der Überlieferung?
So hatten wir's gemacht. Wir hatten nichts erfunden, nur die Teile neu arrangiert. So hatte es auch Ardenti gemacht, auch er hatte nichts erfunden, aber sein Arrangement der Teile war schlechter als unseres gewesen, und außerdem war er nicht so gebildet wie wir, er hatte nicht alle Teile beisammen gehabt.
Sie hatten alle Teile beisammen, aber ihnen fehlte der Plan des Kreuzworträtsels, und so waren wir auch hier wieder die Besseren.
Mir fiel ein Satz von Lia ein, den sie mir in den Bergen gesagt hatte, als sie mir vorwarf, wir hätten ein hässliches Spiel gespielt: »Die Leute gieren nach Plänen, wenn du ihnen einen anbietest, stürzen sie sich drauf wie eine Meute von Wölfen. Du erfindest was, und sie glauben es. Man muß nicht noch mehr Fantasien wecken, als es schon gibt.«