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An diesem Punkt hatte Agliè begriffen: wenn Belbo reden würde, würden es alle hören, und er, Agliè, würde die Aura verlieren, die ihm sein Charisma und seine Macht verlieh. Wenn aber Belbo sich nur ihm allein anvertrauen würde, dann würde Agliè weiterhin Saint-Germain bleiben können, der Unsterbliche — der Aufschub seines Todes fiel zusammen mit dem Aufschub der Enthüllung des Geheimnisses. Also versuchte er Belbo zu überreden, ihm das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, und als er begriff, dass es sinnlos war, provozierte er ihn, indem er seine Kapitulation voraussagte, aber mehr noch, indem er ihm eine melodramatische Szene vorspielte. Oh, er kannte ihn gut, der alte Graf, er wusste, dass bei Leuten vom Schlage Belbos die Dickköpfigkeit und der Sinn für das Lächerliche sogar die Angst besiegen. Er zwang Belbo, einen schärferen Ton anzuschlagen und endgültig nein zu sagen.

Und aus derselben Angst zogen es die anderen vor, Belbo zu töten. Zwar verloren sie damit die Aussicht auf die gesuchte Karte — sie hatten ja noch Jahrhunderte Zeit, nach ihr zu suchen —, aber sie retteten sich die Jugendfrische ihrer alternden und sabbernden Begierde.

Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Amparo erzählt hatte. Bevor sie nach Italien gekommen war, hatte sie ein paar Monate in New York verbracht und dort in einer Gegend gewohnt, wo man höchstens hingeht, um Fernsehfilme über die Arbeit der Mordkommission zu drehen. Sie war oft spät in der Nacht allein nach Hause gekommen. Als ich sie fragte, ob sie denn keine Angst vor Vergewaltigungen gehabt habe, erklärte sie mir ihre Methode: Sobald ein Vergewaltiger näher kam und sich als solcher zu erkennen gab, nahm sie ihn am Arm und sagte: »Na komm, gehen wir ins Bett.« Woraufhin er panikartig davonlief.

Ein Vergewaltiger will keinen Sex, er will die Erregung des Gewaltaktes, mit dem er sich den Sex holen muß, er will den Widerstand des Opfers brechen. Wird ihm der Sex freiwillig geboten und ihm gesagt, hic Rhodus, hic salta, dann ist es ganz natürlich, dass er wegrennt, was wäre er sonst für ein Vergewaltiger?

Und wir sind hingegangen, um ihre Begierde zu wecken, um ihnen ein Geheimnis anzubieten, das leerer nicht sein konnte, denn wir kannten es nicht nur selber nicht, wir wussten auch, dass es falsch war.

Die Maschine flog über den Mont Blanc, und alle Passagiere stürzten sich auf dieselbe Seite, um nicht die Offenbarung jener platten Beule zu versäumen, die da dank einer Dystonie der tellurischen Ströme gewachsen war. Ich dachte, wenn das, was ich gerade dachte, richtig war, dann gab es vielleicht die tellurischen Ströme gar nicht, genauso wenig wie die Botschaft aus Provins. Aber die Geschichte der Entzifferung des Großen Plans, so wie wir sie rekonstruiert hatten, war dann nichts anderes als die Realgeschichte.

Meine Gedanken gingen zurück zu Belbos letztem file... Aber wenn das Sein so leer und zerbrechlich ist, dass es sich nur an der Illusion derjenigen aufrecht hält, die nach seinem Geheimnis suchen, dann gibt es wirklich — wie Amparo damals nach ihrer Niederlage sagte —, dann gibt es wirklich keine Erlösung, dann sind wir alle Sklaven, gebt uns einen Herrn, wir haben's nicht besser verdient...

Nein, das kann nicht alles sein. Das kann nicht alles sein, denn Lia hat mich gelehrt, dass es noch etwas anderes gibt, und ich habe den Beweis, er heißt Giulio, in diesem Moment spielt er wahrscheinlich gerade auf einer Bergwiese und zieht eine Ziege am Schwanz. Es kann nicht alles sein, denn Belbo hat zweimal nein gesagt.

Das erste Nein hatte er zu Abulafia gesagt und zu jedem, der Abulafias Geheimnis zu knacken versuchte. »Hast du das Passwort?« hieß die Frage. Und die Antwort, der Schlüssel zum Wissen, war »Nein«. Darin lag eine Wahrheit: Nicht nur gibt es das Zauberwort nicht, sondern wir müssen auch zugeben, dass wir es nicht kennen. Doch wer zugeben kann, dass er es nicht kennt, kann etwas erfahren, zumindest so viel, wie ich dann erfahren habe.

Das zweite Nein hatte Belbo am Samstag Abend gesagt, als er die angebotene Rettung ablehnte. Er hätte irgendeine Weltkarte erfinden können, er hätte eine von denen angeben können, die ich ihm gezeigt hatte — so wie das Pendel hing, hätte dieser Haufen Irrer das Zeichen für den Nabel der Welt ohnehin nie gefunden, und wenn doch, hätten sie weitere Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht das richtige war. Aber nein, Belbo wollte sich nicht beugen, er wollte lieber sterben.

Und es war nicht die Gier nach Macht, der er sich nicht beugen wollte, er wollte sich nicht dem Un-Sinn beugen. Das aber heißt, dass er irgendwie gewusst haben muß, dass es trotz aller Zerbrechlichkeit des Seins, trotz aller End-und Ziellosigkeit unserer Befragung der Welt doch etwas gibt, was mehr Sinn hat als der Rest.

Was war es, was Belbo geahnt hatte, vielleicht erst in jenem Moment, was hatte ihm erlaubt, den verzweifelten Worten in seinem letzten file zu widersprechen und sein Schicksal nicht in die Hände derer zu legen, die ihm irgendeinen Plan garantierten? Was hatte er begriffen — endlich —, das ihm nun erlaubte, sein Leben zu opfern, als hätte er alles, was er wissen musste, schon vor langer Zeit entdeckt, ohne sich dessen bis zu diesem Moment bewusst gewesen zu sein, und als wäre angesichts dieses seines einzigen, wahren, absoluten Geheimnisses alles, was da im Conservatoire geschah, heillos dumm — so dumm, dass es dumm gewesen wäre, unbedingt weiterleben zu wollen?

Mir fehlte etwas, ein Glied der Kette. Ich glaubte nun alle Heldentaten Belbos zu kennen, vom Leben bis zum Tode, außer einer.

Bei der Ankunft in Mailand, als ich nach meinem Pass suchte, fand ich in einer Jackentasche den Schlüssel zu diesem Haus. Ich hatte ihn am letzten Donnerstag zusammen mit Belbos Wohnungsschlüssel eingesteckt. Bei seinem Anblick fiel mir jener Tag ein, als wir nach *** gekommen waren und Belbo uns den großen Wandschrank gezeigt hatte, der, wie er uns sagte, seine gesammelten Jugendwerke enthielt. Vielleicht hatte Belbo etwas geschrieben, was nicht in Abulafia zu finden war, und dieses Etwas lag in dem Wandschrank begraben?

Es gab keinen vernünftigen Grund für diese meine Vermutung. Ein guter Grund — sagte ich mir —, sie ernst zu nehmen. Nach allem.

So ging ich mein Auto holen und bin hierhergefahren.

Niemand war da, nicht einmal die alte Verwandte der Canepas oder Hausmeisterin oder was sie gewesen sein mochte. Vielleicht ist auch sie inzwischen gestorben. Das Haus ist leer. Ich bin durch die Zimmer gegangen, es riecht nach Feuchtigkeit, ich hatte sogar daran gedacht, den »Priester« in einem der Schlafzimmer anzuzünden. Aber es ist Unsinn, im Juni das Bett zu wärmen, sobald man die Fenster öffnet, kommt die laue Abendluft herein.

Nach Sonnenuntergang war noch kein Mond zu sehen. Wie vorgestern Nacht in Paris. Er ist erst sehr spät aufgegangen, ich sehe die schmale Sichel — noch schmaler als in Paris — erst jetzt, wo sie langsam über die flacheren Hügel steigt, in einer Senke zwischen dem Bricco und einem anderen gelblichen, vielleicht schon abgeernteten Buckel.

Angekommen bin ich so gegen sechs, es war noch hell. Ich hatte mir nichts zu essen mitgebracht, aber in der Küche fand ich eine Salami an einem Haken hängen. Mein Abendessen bestand aus Salami und frischem Wasser, das war so gegen zehn. Jetzt habe ich Durst, ich habe mir eine große Karaffe Wasser in Onkel Carlos Arbeitszimmer geholt und trinke alle zehn Minuten ein Glas, dann gehe ich runter und fülle sie wieder auf. Es muß inzwischen bald drei sein. Aber ich habe das Licht gelöscht und kann die Uhr kaum noch lesen. Ich denke nach und sehe dabei aus dem Fenster. An den Hängen der Hügel sind winzige Lichter zu sehen, wie Glühwürmchen oder Sternschnuppen. Die Scheinwerfer vereinzelter Autos, die ins Tal fahren oder hinauf zu den höher gelegenen Dörfern. Als Belbo klein war, kann es diesen Anblick noch nicht gegeben haben. Es gab weder diese Autos noch diese Straßen, und nachts war Ausgangssperre.