Gleich nach meiner Ankunft hatte ich den bewussten Wandschrank geöffnet. Borde und Fächer voller Papiere, von den Schulaufsätzen des Grundschülers bis zu Heften und Bündeln voller Gedichte und Prosa des Heranwachsenden. Jeder hat als Heranwachsender Gedichte geschrieben, die wahren Dichter haben sie dann vernichtet, die schlechten haben sie veröffentlicht. Belbo war zu nüchtern, um sie aufzuheben, und zu schwach, um sie zu vernichten. So begrub er sie in Onkel Carlos Schrank.
Ich las einige Stunden lang. Und weitere lange Stunden, bis zu diesem Moment, habe ich über den letzten Text nachgedacht, den Text, den ich schließlich gefunden hatte, als ich die Suche gerade aufgeben wollte.
Ich weiß nicht, wann ihn Belbo geschrieben hat. Es sind Seiten und Seiten, auf denen sich verschiedene Handschriften überschneiden, oder es ist dieselbe Handschrift zu verschiedenen Zeiten. Als hätte er den Text sehr früh geschrieben, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, ihn dann weggelegt und mit zwanzig wieder hervorgeholt, und mit dreißig wieder und womöglich später noch einmal. Bis er dann auf das Schreiben verzichtete und erst mit Abulafia wieder anfing, aber ohne zu wagen, diese Zeilen wieder hervorzuholen und sie der elektronischen Demütigung auszusetzen.
Beim Lesen schien mir, als setzten sie eine bekannte Geschichte fort: die Ereignisse in *** von 1943 bis 1945, mit Onkel Carlo, den Partisanen, dem Oratorium, Cecilia und der Trompete. Den Prolog kannte ich, das waren die obsessiven Themen des romantischen, betrunkenen, enttäuschten und leidenden Belbo. Memoirenliteratur, das wusste auch er, ist die letzte Zuflucht der Canaillen.
Aber ich war kein Literaturkritiker, ich war einmal mehr Sam Spade, auf der Suche nach der letzten Spur.
Und so fand ich den Schlüsseltext. Er bildet vermutlich das letzte Kapitel von Belbos Geschichte in ***. Danach kann nichts mehr geschehen sein.
119
Dann sobald das Laubwerck oder Krantz am Rohr angezündet wurde, sahe ich zu oberst das Loch eröffnen und ein hellen Feuerstriemen durch das Rohr hinabschießen und in den Leichnam fahren. Darauf wurde das Loch wider verdecket und die Posaun weggeraumbt.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 6, p. 126
Der Text hat Lücken, Überlappungen, unklare Stellen, Streichungen. Ich rekonstruiere ihn mehr, als dass ich ihn lese, ich lebe ihn nach.
Es muß gegen Ende April 45 gewesen sein. Die deutsche Wehrmacht war geschlagen, die Faschisten zerstreuten sich, auf jeden Fall war *** bereits fest in der Hand der Partisanen. Nach der letzten Schlacht, derjenigen, von der uns Jacopo in diesem Hause erzählt hatte (vor fast zwei Jahren), hatten sich mehrere Partisanenbrigaden in *** versammelt, um dann in die Provinzhauptstadt zu marschieren. Sie warteten auf ein Signal von Radio London, sie sollten aufbrechen, wenn Mailand zum Aufstand bereit war.
Auch die kommunistischen Garibaldiner waren gekommen, befehligt von Ras, einem Riesen mit schwarzem Bart, der im Ort sehr beliebt war. Sie trugen Fantasieuniformen, alle voneinander verschieden, nur die Halstücher und der Stern auf der Brust waren immer gleich, beide rot, und sie waren bewaffnet, wie's gerade kam, der eine mit einem alten Karabiner, der andere mit einer vom Feind erbeuteten MP. Ganz anders dagegen die Badoglianer mit ihren blauen Halstüchern, in Khaki-Uniformen ähnlich denen der Engländer und mit brandneuen Stens. Die Alliierten unterstützten die Badoglianer durch großzügige Nachschublieferungen, die nachts mit Fallschirmen abgeworfen wurden, nachdem pünktlich um elf, wie er's allabendlich seit zwei Jahren tat, der mysteriöse »Pippetto« vorbeigeflogen war, ein englischer Aufklärer, bei dem niemand kapierte, was der da aufklären mochte, denn Lichter waren über Kilometer und Kilometer keine zu sehen.
Es gab Spannungen zwischen Garibaldinern und Badoglianern, angeblich hatten die Badoglianer sich am Abend der Schlacht mit dem Ruf »Vorwärts Savoyen!« auf den Feind gestürzt, aber einige von ihnen sagten, das sei nur aus Gewohnheit gewesen, was solle man denn sonst beim Angriff rufen, das heiße noch lange nicht, dass sie Monarchisten seien, sie wüssten selber, dass der König beträchtliche Mitschuld habe. Worauf die Garibaldiner grienten, man könne wohl »Vorwärts Savoyen!« brüllen, wenn man auf offenem Feld mit aufgepflanztem Bajonett voranstürme, aber nicht, wenn man mit der Sten in der Hand hinter eine Hausecke hechte. Tatsache ist, dass die Badoglianer sich an die Engländer verkauft hatten.
Trotzdem kam man zu einem Modus vivendi. Für den Angriff auf die Provinzhauptstadt brauchte man ein gemeinsames Oberkommando, und die Wahl fiel auf Terzi, der die am besten ausgerüstete Brigade kommandierte. Er war der älteste, er hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht, er war ein Held und genoss das Vertrauen der Alliierten.
Nach ein paar Tagen, ich glaube, es war noch vor dem Aufstand in Mailand, waren sie losgezogen, um die Provinzhauptstadt zu nehmen. Gute Nachrichten trafen ein, die Operation war gelungen, die Brigaden kehrten siegreich nach *** zurück, aber es hatte Verluste gegeben, es hieß, Ras sei gefallen und Terzi sei verwundet.
Dann, eines Nachmittags, hörte man das Brummen der Lastwagen, Siegesgesänge, die Leute liefen auf die Piazza, von der Landstraße kamen die ersten Einheiten, erhobene Fäuste, Fahnen, freudig geschwenkte Waffen aus den Autofenstern und auf den offenen Lastwagen. Schon längs der Straße waren die Partisanen mit Blumen überschüttet worden.
Auf einmal rief jemand »Ras! Ras!«, und da saß er, vorn auf dem Kotflügel eines Dodge, mit seinem struppigen Bart und seinem schwarzen Haar auf der verschmitzten Brust unter dem offenen Hemd, und er grüßte lachend die Menge.
Neben Ras stieg auch Rampini vom Dodge, ein kurzsichtiger Junge, der in der Blaskapelle spielte, er war nicht viel älter als die anderen, und seit drei Monaten war er verschwunden gewesen, es hieß, er sei zu den Partisanen gegangen. Und nun stand er da mit dem roten Tuch um den Hals, in einer Khaki-Jacke und einem Paar blauer Hosen. Es war die Uniform von Don Ticos Blaskapelle, aber er trug jetzt einen breiten Gürtel mit einem Holster und einer Pistole darin. Durch seine dicken Brillengläser, die ihm soviel Spott von seinen alten Spielkameraden eingebracht hatten, sah er auf die Mädchen, die ihn umjubelten, als ob er Flash Gordon wäre. Und Jacopo fragte sich, ob Cecilia wohl in der Menge sein mochte.
Nach einer halben Stunde wimmelte der Platz von Partisanen, und die Menge rief laut nach Terzi, er solle eine Rede halten.
Terzi erschien auf dem Balkon des Rathauses, blass, auf seine Krücke gestützt, und versuchte mit der freien Hand die Menge zu beruhigen. Jacopo wartete gespannt auf die Rede, denn seine ganze Kindheit war, wie die seiner Altersgenossen, von den großen historischen Reden des Duce geprägt gewesen, deren bedeutendste Stellen man in der Schule auswendig lernte, was in der Praxis hieß, dass man alles auswendig lernte, denn jeder Satz war eine bedeutende Stelle.
Als die Menge endlich schwieg, begann Terzi zu sprechen, mit einer rauen Stimme, die kaum zu hören war. Und er sagte: »Mitbürger, Freunde. Nach so vielen leidvollen Opfern... da sind wir wieder. Ehre den für die Freiheit Gefallenen.«
Das war alles. Er ging wieder hinein.
Und die Menge jubelte, und die Partisanen hoben ihre MPs, ihre Stens, ihre Karabiner, ihre Einundneunziger hoch und feuerten in die Luft, die Hülsen regneten nur so herunter, und die Jungs schlüpften zwischen den Beinen der Bewaffneten und der Zivilisten hindurch, denn eine so fette Ernte würden sie nie wieder machen, es bestand die Gefahr, dass der Krieg noch im selben Monat zu Ende ging.
Aber es hatte auch Tote gegeben, zwei junge Männer. Durch einen grausamen Zufall stammten sie beide aus San Davide, einem Dorf oberhalb von ***, und ihre Familien wünschten, dass sie auf dem dortigen Friedhof begraben würden.