Jacopo war allein. Hinter ihm lag ein leerer Friedhof, in seinen Händen lag die Trompete, vor ihm lagen die Hügel, die immer blauer einer hinter dem andern im Quittenmus des Unendlichen verschwammen, und rächend schien über seinem Kopf die befreite Sonne.
Da beschloss er zu weinen.
Doch plötzlich war dann der Leichenwagen erschienen, mit dem prächtigen Kutscher, der wie ein General des Kaisers angetan war, ganz in Cremeweiß und Schwarz und Silber, und die Pferde verhüllt mit barbarischen Masken, die nur die Augen freiließen, und mit Tüchern verhängt wie Bahren, und auf dem Wagen die gewundenen Säulen, die das Dach mit dem ägyptisch-griechisch-assyrischen Tympanon trugen, alles in Weiß und Gold. Der Mann mit dem Zweispitz hielt einen Augenblick vor dem einsamen Trompeter auf dem Dorfplatz, und Jacopo fragte ihn: »Bringen Sie mich nach Hause?«
Der Mann nickte gutmütig. Jacopo kletterte neben ihn auf den Bock, und so begann auf dem Totenwagen die Rückkehr in die Welt der Lebenden. Schweigend lenkte der nunmehr dienstfreie Charon seine funebren Rösser zu Tal, Jacopo saß aufrecht und feierlich da, die Trompete unter den Arm geklemmt, den glänzenden Mützenschirm über die Augen gezogen, durchdrungen von seiner neuen, unverhofften Rolle.
Sie fuhren die Serpentinen hinunter, in jeder Kurve öffnete sich eine neue Aussicht auf blaugrüne Weinberge, alle in einem blendenden Licht, und nach einer unbestimmbaren Zeit kamen sie in *** an. Sie überquerten die rings mit Arkaden gesäumte Piazza, die menschenleer war, wie es nur die Plätze im Monferrat an einem Sonntagnachmittag um zwei sein können. Ein Schulkamerad an der Ecke der Piazza hatte Jacopo auf dem Kutschbock sitzen sehen, die Trompete unterm Arm, die Augen geradeaus ins Unendliche, und hatte ihm bewundernd zugewinkt.
Dann war Jacopo nach Hause gekommen, er wollte nichts essen und nichts erzählen. Er hockte sich auf die Terrasse und begann Trompete zu spielen, leise, als hätte er einen Dämpfer, um die Stille der Siesta nicht zu stören.
Sein Vater war herausgekommen und hatte freundlich, mit der Ruhe dessen, der die Gesetze des Lebens kennt, zu ihm gesagt: »In einem Monat, wenn alles läuft, wie es laufen sollte, geht's wieder nach Hause. Es ist leider nicht möglich, dass du in der Stadt Trompete spielst. Der Hausherr würde uns kündigen. Also fang schon mal an, sie zu vergessen. Wenn's dich wirklich zur Musik hinzieht, lassen wir dich Klavierstunden nehmen.« Und dann, als er Jacopos Augen feucht werden sah: »Na komm schon, Dummerchen. Merkst du nicht, dass die schlimmen Tage vorbei sind?«
Am nächsten Tag brachte Jacopo die Trompete zu Don Tico zurück. Zwei Wochen später verließ die Familie ***, um sich in die Zukunft zu wenden.
10. Malchuth
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Was mir jedoch betrüblich erscheint, ist, daß ich einige unbesonnene und törichte Götzendiener sehe, welche... die Vortrefflichkeit des Kultes der Ägypter imitieren; sie suchen nach der Gottheit, von der sie keinerlei Verständnis haben... womit sie nicht nur jene Götter und klugen Priester verhöhnen, sondern auch uns... und was noch schlimmer ist, womit sie triumphieren, da sie ihre närrischen Riten in solch hoher Achtung sehen... — Gräme dich nicht, o Momos, sprach Isis, denn das Schicksal hat den Wechsel zwischen der Finsternis und dem Lichte befohlen. — Das Übel ist nur, erwiderte Momos, daß sie wähnen, sie seien im Licht.
Giordano Bruno, Spaccio della bestia trionfante — Die Vertreibung des triumphierenden Tieres, 3
Ich müsste zufrieden sein. Ich habe begriffen. Sagten nicht einige von ihnen, die Rettung komme, wenn man die volle Erkenntnis erreicht hat?
Ich habe begriffen. Ich müsste zufrieden sein. Wer hat gesagt, Zufriedenheit entspringe aus dem Betrachten der Ordnung, der verstandenen, genossenen, restlos verwirklichten, in Triumph und Freude verwirklichten Ordnung, dem Ende der Anstrengung? Alles ist klar, durchsichtig, das Auge ruht auf dem Ganzen und seinen Teilen, es sieht, wie sich die Teile zum Ganzen fügen, es erfaßt den Mittelpunkt, wo die Lymphe fließt, der Atem, die Wurzel aller Fragen...
Ich müsste erschöpft sein vor Zufriedenheit. Aus dem Fenster des Arbeitszimmers von Onkel Carlo schaue ich auf den Hügel hinaus und auf den schmalen Mond, der gerade aufgeht. Der breite Buckel des Bricco, die sanfteren Rücken der Hügel im Hintergrund, sie erzählen die Geschichte langsamer, schläfriger Bewegungen der Mutter Erde, die, sich streckend und gähnend, blaue Weiten in der dunklen Glut von hundert Vulkanen formte und wieder zerstörte. Keine Grundrichtung der tellurischen Ströme erkennbar. Die Erde wälzte sich in ihrem Halbschlaf, warf Falten und vertauschte eine Oberfläche gegen die andere. Wo vorher Ammoniten grasten, jetzt Diamanten. Wo vorher Diamanten keimten, jetzt Weinreben. Die Logik der Moräne, der Lawine, des Erdrutsches. Lockere ein Steinchen, wirf es aufs Geratewohl irgendwohin, es bewegt sich, kullert zu Tal, lässt hinter sich Raum frei (ah, horror vacui!), ein anderes Steinchen fällt darauf, schon bildet sich eine Höhe. Oberflächen. Oberflächen von Oberflächen auf Oberflächen. Die Weisheit der Erde. Und Lias. Der Abgrund ist das Abflussloch einer Ebene. Warum einen Abfluss verehren?
Doch warum schenkt mir das Begreifen keinen Frieden? Warum das Schicksal lieben, wenn es einen genauso tötet wie die Vorsehung und das Komplott der Archonten? Vielleicht habe ich noch nicht alles begriffen, mir fehlt noch ein Stück, ein Steinchen im Puzzle.
Wo habe ich gelesen, dass man im allerletzten Moment, wenn sich das Leben, Oberfläche auf Oberfläche, ganz mit Erfahrung überkrustet hat, alles weiß: das Geheimnis, die Macht und die Herrlichkeit, warum man geboren ist, warum man stirbt und wie alles auch hätte anders sein können? Man ist weise geworden. Aber die größte Weisheit ist in jenem Moment, zu wissen, dass man es zu spät weiß. Man begreift alles, wenn es nichts mehr zu begreifen gibt.
Jetzt weiß ich, was das Gesetz des Reiches ist, das Gesetz jener armen, verzweifelten und zerlumpten Malchuth, in die sich die Weisheit gerettet hat wie ins Exil, tastend nach ihrer verlorenen Klarheit suchend. Die Wahrheit von Malchuth, die einzige Wahrheit, die in der Nacht der Sefiroth leuchtet, ist, dass die Weisheit sich nackt in Malchuth enthüllt, und sie enthüllt, dass ihr Geheimnis im Nicht-Sein liegt, im Nicht-Existieren außer für einen einzigen Augenblick, nämlich den letzten. Danach fangen die Anderen wieder an.
Und mit den Anderen die Diaboliker, die nach Abgründen suchen, in denen sich das Geheimnis verbirgt, das ihre Verrücktheit ist.
Über die Hänge des Bricco erstrecken sich Reihen um Reihen von Weinreben. Ich kenne sie, ich habe ähnliche zu meiner Zeit gesehen. Keine Zahlenlehre hat jemals sagen können, ob sie auf- oder absteigen. Zwischen den Reihen aber — man muß barfuß gehen, mit einer Hornhaut an den Fersen seit Kindertagen — stehen Pfirsichbäume. Sie tragen gelbe Pfirsiche, die nur zwischen den Weinreben wachsen, man kann sie mit einem leichten Daumendruck zerteilen, und der Kern kommt fast von selber heraus, sauber wie nach einer chemischen Reinigung, nur da und dort hängt noch ein fettes weißes Fruchtfleischwürmchen mit einem Atom daran. Man kann sie essen, fast ohne die Samthaut zu spüren, die einen von der Zunge bis in die Lenden erschauern lässt. Einst weideten dort die Dinosaurier. Dann hat eine andere Oberfläche die ihre bedeckt. Und doch, wie Belbo in dem Augenblick, als er die Trompete blies: wenn ich in die Pfirsiche biss, verstand ich das Reich und war ganz mit ihm eins. Der Rest ist nur Cleverness. Erfinde, erfinde den Großen Plan, Casaubon. Das ist es, was alle getan haben, um die Dinosaurier und die Pfirsiche zu erklären.