Ich lese diesen Text wieder, den ich unter seinen files gefunden habe, und sehe nun, dass er darin im Grunde das, was er mir am nächsten Tag bei Garamond über seinen Beruf sagen sollte, romanhaft auszuspinnen versuchte. Alles finde ich darin wieder: seine Akribie, seine Leidenschaft, die Enttäuschung des Lektors, der durch Mittelspersonen schreibt, die Sehnsucht nach einer Kreativität, die er nie verwirklichen konnte, die moralische Strenge, die ihn zwang, sich selbst zu bestrafen, weil er etwas begehrte, worauf er kein Recht zu haben meinte, indem er von seinem Begehren ein pathetisches Kitschgemälde entwarf. Nie zuvor bin ich einem begegnet, der sich selber mit solcher Verachtung bemitleiden konnte.
Filename: Surabaya-Jim
Morgen Gespräch mit dem jungen Cinti.
1. Schöne Monografie, streng geschrieben, vielleicht ein bisschen zu akademisch.
2. Am genialsten im Schlusskapitel der Vergleich zwischen Catull, den poetae novi und den modernen Avantgarden.
3. Warum nicht als Einleitung?
4. Muss ihn dazu überreden. Er wird sagen, solche haltlosen Spekulationen gehörten sich nicht für eine philologische Reihe. Er muss auf seinen Lehrer Rücksicht nehmen, sonst bekommt er von ihm kein Vorwort und riskiert seine Karriere. Eine brillante Idee auf den letzten zwei Seiten geht unbemerkt durch, am Anfang springt sie zu sehr ins Auge und kann die Päpste der Zunft irritieren.
5. Aber man braucht sie nur kursiv zu setzen, in Form einer lockeren Vorrede außerhalb der eigentlichen Untersuchung, dann bleibt die Hypothese bloß eine Hypothese, ohne die Seriosität der Arbeit zu kompromittieren. Die Leser jedoch sind sofort gefesselt, sie lesen das Buch unter einem anderen Blickwinkel.
Aber dränge ich ihn damit wirklich zu einem Akt der Befreiung, oder benutze ich ihn bloß, um mein eigenes Buch zu schreiben?
Mit zwei Worten ganze Bücher verändern. Demiurg am Werk anderer sein. Statt weichen Ton zu kneten, kleine Schläge auf den hart gewordenen Ton, aus dem ein anderer schon seine Statue geformt hat. Moses den richtigen Schlag mit dem Hammer versetzen, und er wird sprechen.
Gespräch mit William S.
– Ich habe Ihre Arbeit gelesen, nicht schlecht. Das Stück hat Spannung, Fantasie, Dramatik. Ist es Ihr erster Schreibversuch?
– Nein, ich habe schon eine andre Tragödie geschrieben, die Geschichte zweier Liebender in Verona, die ...
– Gut, aber sprechen wir jetzt von dieser Arbeit, Herr S. Ich frage mich, warum Sie die Geschichte in Frankreich spielen lassen. Wieso nicht in Dänemark? Ich meine ja nur, das würde doch nicht viel Arbeit machen, es genügt, ein paar Namen zu ändern, aus dem Château de Chalons-sur-Marne wird, sagen wir, das Schloss Helsingør ... Ich finde, in einem nordischen, protestantischen Klima, wo der Geist Kierkegaards umgeht, würden all diese existenziellen Fragen ...
– Nun ja, vielleicht haben Sie recht.
– Ja, ich glaube wirklich. Und dann brauchte Ihr Stück noch ein paar dramatische Straffungen, nur da und dort noch eine Retusche, wie wenn der Friseur die letzten Härchen im Nacken stutzt, bevor er Ihnen den Spiegel hinhält ...
– Zum Beispiel der Geist des Vaters. Wieso erst am Ende? Ich würde ihn gleich am Anfang auftreten lassen. Sodass die Mahnung des Vaters sofort das ganze Verhalten des jungen Prinzen bestimmt und ihn in Konflikt mit der Mutter bringt.
– Keine schlechte Idee, ich brauchte bloß eine Szene zu verschieben.
– Genau. Und schließlich der Stil. Greifen wir eine beliebige Stelle heraus, hier, diese zum Beispiel, wo der junge Prinz an die Rampe tritt und mit seiner Meditation über Aktivität und Passivität beginnt. Die Stelle ist wirklich schön, aber mir fehlt noch die rechte Spannung, das geht noch zu wenig unter die Haut: »Handeln oder nicht handeln? Das ist hier meine angstvolle Frage! Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder ...« Wieso meine angstvolle Frage? Ich würde ihn sagen lassen, das ist hier die Frage, dies ist das Problem, verstehen Sie, nicht sein individuelles Problem, sondern die Grundfrage des Daseins überhaupt. Die Alternative ist eher, um es mal so zu sagen, die zwischen Sein und Nichtsein ...
Die Welt bevölkern mit Kindern, die unter anderen Namen leben, und niemand weiß, dass sie deine sind. Als wäre man Gott in Zivil. Du bist Gott, du gehst durch die Stadt, hörst die Leute von dir reden, Gott hier und Gott da, und was für ein wunderbares Universum, und wie elegant die universale Schwerkraft, und du lächelst in deinen Bart (du musst dir einen Bart ankleben, um unter die Leute zu gehen, oder nein, keinen Bart, am Bart erkennen sie dich sofort), und du sagst zu dir selbst (der Solipsismus Gottes ist dramatisch): »Ha, all das habe ich geschaffen, und sie wissen es nicht.« Und jemand rempelt dich auf der Straße an, beschimpft dich womöglich, und du sagst demütig Entschuldigung und gehst weiter, dabei bist du Gott, und wenn du wolltest, brauchtest du bloß mit dem Finger zu schnipsen, und die Welt wäre Asche. Aber du bist so unendlich allmächtig, dass du dir erlauben kannst, gütig zu sein.
Einen Roman zu schreiben über Gott, der inkognito durch seine Schöpfung spaziert ... Vergiss es, Belbo, wenn dir die Idee gekommen ist, ist sie bestimmt auch schon einem andern gekommen.
Variante. Du bist ein Autor, du weißt noch nicht, ein wie großer, die Frau, die du liebtest, hat dich verraten, das Leben hat für dich keinen Sinn mehr. Um zu vergessen, machst du eine Reise auf der Titanic und erleidest Schiffbruch in der Südsee, du rettest dich (als einziger Überlebender) auf einem Eingeborenenboot und verbringst lange Jahre auf einer einsamen, nur von Papuas bewohnten Insel, umhegt von Mädchen, die dir schmachtende Lieder singen, wobei sie ihre nur mit Blütenkränzen bedeckten Brüste wippen lassen. Du gewöhnst dich daran, sie nennen dich Jim, wie sie's mit allen Weißen tun, eines Abends kommt ein Mädchen mit bernsteinfarbener Haut in deine Hütte und sagt: »Ich deine, ich mit dir.« Ja, es ist schön, am Abend auf der Veranda zu liegen und das Kreuz des Südens zu betrachten, während sie dir die Stirne streichelt.
Du lebst im Rhythmus der auf- und untergehenden Sonne und kennst nichts anderes mehr. Eines Tages kommt ein Motorboot mit Holländern, du erfährst, dass zehn Jahre vergangen sind, du könntest mit ihnen davonfahren, aber zu zögerst, du tauschst lieber Kokosnüsse gegen Waren und versprichst, dich um die Hanfernte zu kümmern, die Eingeborenen schuften für dich, du fängst an, von Insel zu Insel zu fahren, bald nennt man dich überall Surabaya-Jim. Ein vom Suff ruinierter portugiesischer Abenteurer kommt, um mit dir zu arbeiten, und du erlöst ihn vom Alkohol, alle Welt spricht inzwischen von dir in jenen Südseegewässern, du berätst den Maharadscha von Brunei bei einer Kampagne gegen die Flusspiraten, bringst eine verrostete alte Kanone aus den Zeiten von Tippo Sahib wieder in Schuss, stellst eine Truppe treu ergebener Malaien auf und trainierst sie, brave Kerle mit betelgeschwärzten Zähnen ... In einem Gefecht am Korallenplateau (oder war's am Susquehanna?) deckt dich der alte Sampan, die Zähne betelgeschwärzt (oder war's der alte Lederstrumpf?), mit seinem eigenen Leib. »Oh, Surabaya-Jim, ich bin glücklich, für dich zu sterben.« — »Oh, mein guter alter Freund Sampanstrumpf!«
Dein Ruhm verbreitet sich durch den ganzen Archipel, von Surabaya bis Port-au-Prince, du verhandelst mit den Engländern, in der Hafenkommandantur von Darwin bist du als Kurtz registriert, du bist nun für alle Welt Kurtz, Surabaya-Jim für die Eingeborenen. Doch eines Abends, während das Mädchen dich auf der Veranda streichelt und das Kreuz des Südens am Himmel erglänzt wie noch nie, aber ach, so ganz anders als der Große Bär, da begreifst du: es zieht dich zurück in die Heimat. Du würdest sie gerne wiedersehen, nur kurz, nur um zu sehen, was dort von dir geblieben ist.