Du nimmst das Motorboot und fährst nach Manila, von dort bringt dich ein Propellerflugzeug nach Bali. Dann weiter über Samoa, die Admiralsinseln, Singapur, Tananarivo, Timbuktu, Aleppo, Samarkand, Basra, Malta, und schon bist du zu Hause.
Achtzehn Jahre sind vergangen, das Leben hat dich gezeichnet, dein Gesicht ist braungegerbt von den Passatwinden, du bist älter geworden, schöner vielleicht. Und kaum bist du angekommen, entdeckst du, dass die Buchläden deine Bücher anpreisen, dein ganzes Werk, in kritischen Neuausgaben, dein Name prangt über dem Tor der alten Schule, in der du lesen und schreiben gelernt hast. Du bist der Große Verschollene Dichter, das Gewissen der Generation. Romantische Mädchen begehen Selbstmord an deinem leeren Grab.
Und dann begegne ich dir, Geliebte, was hast du so viele Runzeln um deine Augen, wie tief zerfurcht vom Schmerz der Erinnerung und von Gewissensbissen ist dein immer noch schönes Gesicht. Fast hätte ich dich gestreift auf dem Trottoir, ich stehe zwei Schritte vor dir, und du hast mich angesehen wie irgendeinen, als suchtest du hinter mir nach einem andern. Ich könnte dich ansprechen, könnte die Zeit auslöschen. Aber wozu? Habe ich nicht schon gehabt, was ich wollte? Ich bin Gott, ich habe dieselbe Einsamkeit, dieselbe Ruhmsucht, dieselbe Verzweiflung, nicht eines meiner Geschöpfe zu sein wie all die andern. Alle leben sie in meinem Licht, nur ich muss im unerträglichen Glanz meiner Finsternis leben.
Geh nur, geh hinaus in die Welt, William S. Du bist berühmt, und wenn du an mir vorbeikommst, erkennst du mich nicht. Ich murmele vor mich hin »Sein oder Nichtsein« und sage mir: »Bravo, gut gemacht, Belbo!« Geh, alter William S. hol dir deinen Anteil am Ruhm: du hast nur geschaffen, ich aber habe dich perfektioniert!
Wir, die den Geburten anderer ans Licht verhelfen, wir dürften eigentlich, ganz wie die Schauspieler, nicht in geweihter Erde begraben werden. Aber die Schauspieler täuschen nur vor, dass die Welt anders sei, als sie ist, wir dagegen fingieren die Vielzahl der möglichen Welten ...
Wie kann das Leben so großzügig sein, eine derart sublime Kompensation für das Mittelmaß zu gewähren?
12
Sub umbra alarum tuarum, Jehova.
(Unter dem Schatten deiner Flügel, Jehova - Psalm 57,2)
Fama Fraternitatis, in Allgemeine und General Reformation, Kassel, Wessel, 1614, Ende
Am nächsten Tag ging ich zu Garamond. Die Nummer l der Via Sincero Renata führte in einen staubigen Durchgang, an dessen Ende ein Hof mit einer Seilerwerkstatt zu sehen war. Im Treppenhaus rechts befand sich ein Fahrstuhl, der in einer Ausstellung für Industrie-Archäologie hätte stehen können, und als ich ihn zu nehmen versuchte, gab er nur ein verdächtiges Knarren von sich, ohne sich in Bewegung zu setzen. Ich beschloss, lieber zu Fuß zu gehen, und stieg zwei Absätze einer steilen, hölzernen, ziemlich staubigen Treppe hinauf. Wie ich später erfuhr, liebte Signor Garamond diesen Ort, weil er ihn an ein altes Pariser Verlagshaus erinnerte. Im ersten Stock verkündete ein Schild »Garamond Editori, s.p.a. «, und eine offene Tür führte in einen Empfangsraum ohne Telefonzentrale, Pförtnerloge oder dergleichen. Aber man konnte nicht eintreten, ohne von einem kleinen Nebenraum aus gesehen zu werden, aus welchem denn auch sofort eine Person vermutlich weiblichen Geschlechts, unbestimmten Alters und von einer Statur, die man euphemistisch als unter dem Durchschnitt bezeichnet hätte, auf mich zugeschossen kam.
Die Person überfiel mich in einer Sprache, die ich schon irgendwo einmal gehört zu haben meinte, bis ich begriff, dass es ein fast ganz der Vokale beraubtes Italienisch war. Ich sagte, ich wolle zu Belbo. Sie hieß mich ein paar Sekunden warten, dann führte sie mich durch den Flur in ein Büro am hinteren Ende.
Belbo empfing mich sehr freundlich: »Na, dann sind Sie ja doch ein ernsthafter Mensch! Treten Sie ein.« Er placierte mich in einen Sessel vor seinem Schreibtisch, der alt wie alles Übrige war, überladen mit Manuskripten wie die Regale ringsum an den Wänden.
»Ich hoffe, Gudrun hat Sie nicht erschreckt«, sagte er.
»Gudrun? Diese ... Signora?«
»Signorina. Sie heißt nicht Gudrun. Wir nennen sie bloß so wegen ihres nibelungischen Äußeren und weil sie irgendwie so teutonisch spricht. Sie will immer alles auf einmal sagen und spart sich die Vokale. Aber sie hat Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit: beim Tippen spart sie sich die Konsonanten.«
»Was macht sie hier?«
»Alles, leider. Sehen Sie, in jedem Verlag gibt es eine Person, die unersetzlich ist, weil sie als einzige wiederzufinden vermag, was in dem Chaos verloren geht, das sie anrichtet. Beziehungsweise weil man, wenn ein Manuskript verloren geht, dann wenigstens weiß, wer schuld ist.«
»Verliert sie auch Manuskripte?«
»Nicht mehr als andere. In einem Verlag verlieren alle andauernd Manuskripte. Ich glaube, der Name Verlag kommt genau in diesem Sinn von ›verlegen›, das Manuskripte-Verlegen ist die Hauptbeschäftigung. Aber man braucht schließlich einen Sündenbock, finden Sie nicht? Ich werfe Gudrun nur vor, dass sie nicht die Manuskripte verliert, die ich gerne los wäre. Unangenehme Zwischenfälle bei dem, was der gute Bacon The advancement of learning nannte.«
»Aber wohin gehen sie denn verloren?«
Er breitete die Arme aus. »Entschuldigen Sie, aber merken Sie nicht, wie dumm die Frage ist? Wenn man wüsste wohin, wären sie nicht verloren.«
»Logisch«, sagte ich. »Aber hören Sie. Wenn ich mir die Bücher von Garamond ansehe, scheint mir, dass sie sehr gut gemacht sind, sorgfältig ediert, und Sie haben einen ziemlich reichhaltigen Katalog. Machen Sie alles hier drin? Wie viele sind Sie?«
»Gegenüber ist ein großer Raum mit den Herstellern, hier nebenan sitzt mein Kollege Diotallevi. Aber er betreut die Lehrbücher, die langlebigen Werke, an denen man lange sitzt und die über lange Zeit verkauft werden, sogenannte Longseller. Die kurzlebigen Studienausgaben mache ich. Aber Sie dürfen nicht denken, das wäre allzu viel Arbeit. Gott ja, über manchen Büchern brüte ich lange, die Manuskripte muss ich natürlich lesen, aber im Allgemeinen ist alles schon abgesichertes Zeug, ökonomisch und wissenschaftlich. Veröffentlichungen des Instituts Soundso, Kongressakten, herausgegeben und finanziert von der und der Uni. Wenn der Autor ein Debütant ist, schreibt sein Lehrer ein Vorwort, und die Verantwortung liegt bei ihm. Der Autor korrigiert mindestens zweimal die Fahnen, überprüft die Zitate und Anmerkungen, und die Rechte haben wir. Dann kommt das Buch heraus, nach ein paar Jahren sind ein- bis zweitausend Exemplare verkauft, die Kosten sind gedeckt... Keine Überraschungen, jedes Buch ein Gewinn.«
»Und was machen dann Sie?«
»Och, eine Menge. Vor allem muss ich die Auswahl treffen. Dann gibt es auch ein paar Bücher, die wir auf unsere Kosten rausbringen, meistens Übersetzungen renommierter Autoren, um unser Programm auf Niveau zu halten. Und schließlich gibt es noch Manuskripte, die einfach so reinkommen, die uns von Einzelgängern gebracht werden. Da ist zwar bloß selten was Interessantes dabei, aber man muss sie durchsehen, man weiß ja nie.«
»Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Spaß? Ich amüsiere mich prächtig. Das ist das Einzige, was ich wirklich gut kann.«
In der Tür erschien ein hagerer Mann um die Vierzig, der ein mehrere Nummern zu großes Jackett trug.
Er hatte spärliches gelbblondes Haar, das ihm über dichte, ebenfalls gelbblonde Brauen fiel. Seine Stimme war sanft, als redete er mit einem Kind.