»Ich bin schon ganz krank von diesem Vademecum des Beiträgers. Müsste alles neu schreiben und hab keine Lust dazu. Störe ich?«
»Das ist Diotallevi«, sagte Belbo und stellte uns vor.
»Ach, Sie sind wegen der Templer gekommen. Sie Ärmster. Hör mal, Jacopo, mir ist noch was Gutes eingefallen: Zigeunerische Urbanistik.«
»Schön«, sagte Belbo bewundernd. »Ich dachte gerade an Aztekische Reitkunst.«
»Wunderbar. Aber tust du die jetzt in die Potiosektion oder zu den Adynata?«
»Mal sehen«, sagte Belbo, kramte in einer Schublade und zog ein paar Blätter heraus. »Die Potiosektion...« Er blickte auf und sah meine Neugier. »Die Potiosektion ist, wie der Name sagt, die Kunst des Suppeschneidens. Aber nicht doch, wo denkst du hin«, wandte er sich an Diotallevi, »die Potiosektion ist doch keine Abteilung, sondern ein Fach, wie die Mechanische Avunculogratulation und die Pilokatabase, beide in der Abteilung Tetrapilotomie.«
»Was ist Tetralo ...«, fragte ich zögernd. »Die Kunst, ein Haar in vier Teile zu spalten. Diese Abteilung enthält die Lehre unnützer Techniken, zum Beispiel die Mechanische Avunculogratulation, die lehrt die Konstruktion von Maschinen zur Tanten- und Onkelbeglückwünschung. Wir schwanken noch, ob wir auch die Pilokatabase in diese Abteilung einordnen sollen, das ist die Kunst, um ein Haar zu entwischen, was ja nicht ganz unnütz ist, oder?«
»Ich bitte Sie, sagen Sie mir doch endlich, wovon Sie da eigentlich reden!«, flehte ich.
»Ganz einfach, Diotallevi und ich projektieren eine Reform des Wissens. Wir planen eine Fakultät der Vergleichenden Irrelevanz, in der man unnütze oder unmögliche Fächer studieren kann. Die Fakultät zielt auf die Reproduktion von Gelehrten mit der Fähigkeit, die Anzahl der irrelevanten Disziplinen ad infinitum zu steigern.«
»Und wie viele Abteilungen haben Sie schon?«
»Vorläufig vier, aber die könnten bereits alles denkbare Wissen enthalten. Die Abteilung Tetrapilotomie hat propädeutische Funktion, sie schärft den Sinn für die Irrelevanz. Eine wichtige Abteilung ist die der Adynata oder Impossibilia. Zum Beispiel Zigeunerische Urbanistik oder Aztekische Reitkunst... Das Wesen der Disziplin ist das Verständnis der tieferen Gründe ihrer Irrelevanz und, in der Abteilung Adynata, auch ihrer Unmöglichkeit Hier haben wir einstweilen Morphematik des Morsens, Geschichte der Antarktischen Agrikultur, Geschichte der Malerei auf den Osterinseln, Zeitgenössische Sumerische Literatur, Institutionen der Montessorischen Dokimasie, Assyrisch-Babylonische Philatelie, Technologie des Rades in den Präkolumbianischen Reichen, Ikonologie der Blindenschrift, Phonetik des Stummfilms ...«
»Was halten Sie von einer Psychologie der Massen in der Sahara?«
»Gut«, sagte Belbo.
»Gut«, bekräftigte Diotallevi mit Überzeugung. »Sie müssten mitarbeiten. Der Junge hat Talent, was, Jacopo?«
»Ja, hab ich gleich gemerkt. Gestern Abend hat er mit großem Scharfsinn dumme Gedankengänge ersonnen. Aber machen wir weiter, wo das Projekt ihn ja scheint's interessiert. Was hatten wir noch gleich in die Abteilung Oxymoristik getan? Ich finde den Zettel nicht mehr.«
Diotallevi zog ein Papier aus der Tasche und fixierte mich mit sentenziöser Sympathie. »In der Oxymoristik geht es, wie der Name sagt, um die Selbstwidersprüchlichkeit der Disziplin. Deswegen gehört meines Erachtens die Zigeunerische Urbanistik hierhin... «
»Nein«, widersprach Belbo, »nur wenn es Nomadische Urbanistik wäre. Die Adynata betreffen empirische Unmöglichkeiten, die Oxymoristik befasst sich mit begrifflichen Widersprüchen.«
»Na schauen wir mal. Was hatten wir denn in die Oxymoristik getan? Hier: Institutionen der Revolution, Parmenideische Dynamik, Heraklitische Statik, Spartanische Sybaritik, Institutionen der Volksoligarchie, Geschichte der Innovativen Traditionen, Tautologische Dialektik, Boolesche Eristik... «
Jetzt fühlte ich mich herausgefordert: »Darf ich eine Grammatik der Devianz anregen?«
»Schön, schön!«, riefen beide und machten sich eifrig ans Schreiben.
»Es gäbe da ein Problem«, sagte ich.
»Welches?«
»Wenn Sie das Projekt bekannt machen, wird ein Haufen Leute ernsthafte Publikationen vorlegen.«
»Ich hab's dir doch gleich gesagt, Jacopo, das ist ein helles Bürschchen«, sagte Diotallevi. »Wissen Sie, genau das ist nämlich unser Problem. Ohne es zu wollen, haben wir das ideale Profil eines wirklichen Wissens gezeichnet. Wir haben die Notwendigkeit des Möglichen demonstriert. Infolgedessen müssen wir schweigen. Aber jetzt muss ich gehen.«
»Wohin?«, fragte Belbo.
»Es ist Freitagnachmittag.«
»O heiliger Jesus!«, rief Belbo. Dann erklärte er mir: »Hier gegenüber gibt es zwei, drei Häuser, in denen orthodoxe Juden wohnen, Sie wissen schon, solche mit schwarzem Hut und Bart und Löckchen. Es gibt nicht viele davon in Mailand. Heute ist Freitag, und bei Sonnenuntergang beginnt der Sabbat. Also fangen sie jetzt drüben an, alles vorzubereiten, die Leuchter zu putzen, die Speisen zu kochen, die Dinge so einzurichten, dass morgen kein Feuer angemacht werden muss. Auch der Fernseher bleibt die ganze Nacht an, nur sind sie gezwungen, vorher den Kanal zu wählen. Unser Freund Diotallevi hat ein kleines Opernglas, mit dem späht er indiskret rüber und träumt davon, er wäre auf der anderen Seite der Straße.«
»Und wieso?«, fragte ich.
»Weil unser guter Diotallevi sich in den Kopf gesetzt hat, er sei Jude.«
»Was heißt in den Kopf gesetzt?« protestierte Diotallevi. » Ich bin Jude. Haben Sie was dagegen, Casaubon?«
»Aber nein, ich bitte Sie!«
»Mein lieber Freund«, sagte Belbo entschieden, »du bist kein Jude.«
»Ach nein? Und mein Name? ›Gott möge dich aufziehen‹ — ein Name wie Diotisalvi, Graziadio, Diosiacontè, alles Übersetzungen aus dem Hebräischen, Gettonamen wie Scholem Alejchem.«
»Diotallevi ist ein Glückwunschname, wie ihn die Standesbeamten den Findelkindern oft gaben. Und dein Großvater war ein Findelkind.«
»Ein jüdisches Findelkind.«
»Diotallevi, du hast hellrosa Haut, eine kehlige Stimme und bist praktisch ein Albino.«
»Es gibt Albino-Kaninchen, und ich bin eben ein Albino-Jude.«
»Diotallevi, man kann nicht einfach beschließen, Jude zu sein, so wie man beschließt, Briefmarkensammler oder Zeuge Jehovas zu werden. Als Jude wird man geboren. Finde dich damit ab, du bist ein Goj wie alle andern.«
»Ich bin beschnitten.«
»Also hör mal! Jeder kann sich beschneiden lassen, zum Beispiel aus hygienischen Gründen. Man braucht bloß einen Arzt mit Thermokauter. In welchem Alter hast du dich denn beschneiden lassen?«
»Seien wir nicht spitzfindig.«
»Doch, seien wir spitzfindig. Juden sind spitzfindig.«
»Niemand kann beweisen, dass mein Großvater kein Jude war.«
»Sicher nicht, er war ja ein Findelkind. Aber er hätte auch der Thronerbe von Byzanz sein können, oder ein Bastard der Habsburger.«
»Niemand kann beweisen, dass er kein Jude war, und er ist nahe am Portico d'Ottavia gefunden worden, beim alten römischen Ghetto.«
»Aber deine Großmutter war keine Jüdin, und das Judentum vererbt sich über die Mütter... «
»... und jenseits aller bürokratischen Argumente — denn auch die Gemeinderegister können jenseits der Buchstabenform gelesen werden — gibt es die Argumente des Blutes, und das Blut sagt mir, dass meine Gedanken zutiefst talmudisch sind, und es wäre rassistisch von dir, zu behaupten, dass auch ein Goj so zuinnerst talmudisch sein kann, wie ich mich zu sein empfinde.«
Sprach's und verließ den Raum. Als er draußen war, sagte Belbo zu mir: »Machen Sie sich nichts daraus. Diese Diskussion führen wir nahezu täglich, nur dass ich jeden Tag ein neues Argument anzubringen versuche. Tatsache ist, dass Diotallevi ein treuer Jünger der Kabbala ist Aber es hat auch christliche Kabbalisten gegeben. Und schließlich, sagen Sie selbst, Casaubon, wenn Diotallevi unbedingt Jude sein will, kann ich mich kaum widersetzen.«