»Kaum. Seien wir demokratisch.«
»Seien wir demokratisch.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Ich erinnerte ihn an den Grund meines Besuches: »Sie haben gesagt, Sie hätten ein Manuskript über die Templer.«
»Ja, stimmt... Warten Sie mal, es war in so einer Kunstledermappe... « Er wühlte in einem Stapel von Manuskripten und versuchte, eins aus der Mitte herauszuziehen, ohne die anderen abzuheben. Riskante Operation. Tatsächlich brach der Stapel zusammen und ergoss sich zum Teil auf den Boden. Aber Belbo hielt nun die Kunstledermappe in Händen.
Ich warf einen Blick aufs Inhaltsverzeichnis und überflog die Einleitung. »Betrifft die Verhaftung der Templer. Im Jahre 1307 ließ Philipp der Schöne alle Templer in Frankreich verhaften. Aber es gibt da eine Legende, nach der zwei Tage, bevor Philipp den Haftbefehl erteilte, in Paris ein Heuwagen, von zwei Ochsen gezogen, mit unbekanntem Ziel die Umfriedung des Tempels verließ. Es heißt, es sei eine Gruppe von Rittern unter der Führung eines gewissen Aumont gewesen und sie seien nach Schottland geflohen, um sich dort einer Maurerloge in Kilwinning anzuschließen. Der Legende zufolge haben die Ritter sich mit den freien Maurerzünften identifiziert, in denen die Geheimnisse des Salomonischen Tempels tradiert wurden... Hier, bitte, hab ich mir gleich gedacht. Auch der hier behauptet, den Ursprung des Freimaurertums in jener Flucht der Templer nach Schottland gefunden zu haben. Eine Mär, die seit zweihundert Jahren ständig wiedergekäut wird, reinste Fantasie. Kein Beweis weit und breit, ich könnte Ihnen ein halbes Hundert Bücher anschleppen, die alle denselben Stuss erzählen, eins vom anderen abgeschrieben. Sehen Sie hier, das hab ich aufs Geratewohl aufgeschlagen: ›Der Beweis für die schottische Expedition liegt in der Tatsache, dass sogar heute, nach sechshundertfünfzig Jahren, noch immer Geheimbünde in der Welt existieren, die sich auf die Tempelritter berufen. Wie lässt sich die Fortdauer dieser Erbschaft anders erklären?‹ Verstehen Sie? Wie sollte es möglich sein, dass der Marquis von Carabas nicht existiert, wo doch auch der Gestiefelte Kater beteuert, in seinen Diensten zu stehen?«
»Hab schon verstanden«, sagte Belbo. »Ich werfe das weg. Aber Ihre Templergeschichte interessiert mich. Jetzt, wo ich endlich mal einen Experten vor mir habe, will ich ihn mir nicht entwischen lassen. Wieso reden alle immer nur von den Tempelrittern und nicht zum Beispiel auch von den Maltesern? Nein, sagen Sie's mir nicht jetzt. Es ist schon spät, Diotallevi und ich müssen gleich zu einem Abendessen mit Signor Garamond. Aber ich hoffe, wir werden so gegen halb elf damit fertig sein. Wenn ich kann, überrede ich Diotallevi, auf einen Sprung zu Pilade mitzukommen — er geht gewöhnlich früh schlafen und ist Abstinenzler. Sind Sie dort zu finden?«
»Wo sonst? Ich gehöre zu einer verlorenen Generation und finde mich nur wieder, wenn ich in Gesellschaft der Einsamkeit meinesgleichen beiwohne.«
13
Li frere, li mestre du Temple Qu’estoient rempli et ample D’or et d’argent et de richesse Et qui menoient tel noblesse, Où sont il? que sont devenu?
(Die Brüder, die Meister des Tempels Die angefüllt waren und reichlich Mit Gold und Silber und Schätzen Und die solchen Adel führten Wo sind sie geblieben? Was ist aus ihnen geworden?)
Chronique à la suite du roman de Favel
Et in Arcadia ego. Pilade war an jenem Abend das Inbild des Goldenen Zeitalters. Es war so ein Abend, an dem man spürte, dass die Revolution nicht nur gemacht werden, sondern vom Unternehmerverband gesponsert sein würde. Nur bei Pilade konnte man den Besitzer einer Baumwollfabrik, in Jeansjacke und mit Bart, beim Pokern mit einem künftigen Untergrundkämpfer im Zweireiher und mit Krawatte sehen. Wir standen am Beginn eines großen Paradigmenwechsels. Noch zu Anfang der sechziger Jahre war der Bart ein Abzeichen der Faschisten gewesen — man musste ihn nur wie Italo Balbo tragen: spitz zulaufend, mit glatt rasierten Wangen —, Achtundsechzig war er dann zum Symbol der Protestbewegung geworden, und jetzt wurde er allmählich neutral, ein allgemeines Zeichen der Freiheit. Der Bart war seit jeher Maske gewesen (man klebt sich einen falschen Bart an, um nicht erkannt zu werden), aber zu Beginn der siebziger Jahre konnte man sich auch mit einem echten Bart vermummen. Man konnte lügen, indem man die Wahrheit sagte, ja indem man die Wahrheit enigmatisch und ungreifbar machte, denn angesichts eines Bartes konnte niemand mehr auf die Gesinnung des Trägers schließen. An jenem Abend indessen prangte der Bart auch auf den glatten Gesichtern derer, die gerade dadurch, dass sie keinen trugen, zu verstehen gaben, dass sie durchaus einen tragen könnten und nur der Provokation wegen darauf verzichteten.
Aber ich schweife ab. Gegen elf erschienen Belbo und Diotallevi, einander mit verstörter Miene herbe Kommentare über ihr soeben absolviertes Essen zuraunend. Erst später erfuhr ich, was es mit den Einladungen des Signor Garamond auf sich hatte.
Belbo ging gleich zu seinen bevorzugten Destillaten über, Diotallevi überlegte lange, entnervt, und bestellte schließlich ein Tonicwater. Wir fanden ein Tischchen im hinteren Teil der Bar, das gerade zwei Straßenbahner räumten, die am nächsten Morgen früh aufstehen mussten.
»Also los«, begann Diotallevi. »Diese Templer ...«
»Nein, bitte nicht jetzt«, versuchte ich mich zu drücken. »Das sind doch Sachen, die man überall nachlesen kann.«
»Wir sind für die mündliche Überlieferung«, sagte Belbo.
»Die ist mystischer«, erklärte Diotallevi. »Gott schuf die Welt, indem er sprach. Er hat kein Telegramm geschickt.«
»Fiat lux. Stop. Brief folgt«, murmelte Belbo.
»Vermutlich an die Thessalonicher«, sagte ich.
»Die Templer!« beharrte Belbo.
»Also«, begann ich.
»Man fängt nie mit also an«, tadelte Diotallevi.
Ich machte Anstalten, mich zu erheben. Wartete, dass sie mich baten zu bleiben. Sie taten es nicht. Ich setzte mich wieder und sprach.
»Naja, ich meine, die Geschichte kennt ja doch jeder. Da wäre der erste Kreuzzug, klar? Gottfried von Bouillon betet am Heiligen Grab und erfüllt sein Gelübde, Balduin wird der erste König von Jerusalem, Ein christliches Reich im Heiligen Land. Aber Jerusalem halten ist eine Sache, das übrige Palästina ist eine andere, die Sarazenen sind zwar geschlagen, aber nicht ausgeschaltet. Das Leben ist nicht leicht da unten, weder für die Neuansässigen noch für die Pilger. Tja, und dann kommen 1118, unter Balduin II., neun Typen daher, angeführt von einem gewissen Hugo von Payns, und bilden den ersten Kern eines Ordens der Armen Ritter Christi: einen monastischen Orden, aber mit Schwert und Rüstung. Mit den drei klassischen Gelübden, Armut, Keuschheit, Gehorsam, aber ergänzt um den Schutz der Pilger. Der König, der Bischof, alle in Jerusalem helfen ihnen sofort, spenden Geld, bringen sie im Kloster des alten Tempels von Salomo unter. Tja, und so werden sie Tempelritter.«
»Was sind es für Leute?«
»Hugo und die ersten acht sind wahrscheinlich noch Idealisten, von der Kreuzzugmystik durchdrungen. Aber später sind es dann junge Kerle, zweitgeborene Adelssöhne auf der Suche nach Abenteuern. Das neue Reich von Jerusalem ist ein bisschen das Kalifornien jener Epoche, da kann man sein Glück machen. Zu Hause haben sie nicht viele Chancen, für einige war der Boden wohl auch zu heiß geworden. Ich sehe die ganze Sache etwa so wie die Fremdenlegion. Was macht man, wenn man in der Tinte sitzt? Man geht zu den Templern, da kommt man in der Welt rum, amüsiert sich, darf sich raufen, kriegt zu essen und was zum Anziehen, und am Ende hat man sogar seine Seele gerettet. Natürlich, man musste schon ziemlich am Ende sein, es bedeutete schließlich, in die Wüste zu gehen, in Zelten zu schlafen, tage- und nächtelang keine lebende Seele zu sehen außer anderen Templern, und in der glühenden Sonne zu reiten, quälenden Durst zu ertragen und anderen armen Teufeln den Bauch aufzuschlitzen ...«