»Möchte nicht in ihren Unterkünften übernachtet haben«, meinte Belbo.
»Es war stets kennzeichnend für die Eremiten«, dozierte Diotallevi, »eine gesunde Schmutzigkeit zu kultivieren, um den eigenen Körper zu erniedrigen. War's nicht der heilige Makarios, der auf einer Säule lebte, und wenn ihm die Würmer vom Leibe fielen, las er sie auf und setzte sie sich wieder auf den Leib, damit auch diese Geschöpfe Gottes ihr Festmahl hatten?«
»Der Säulenheilige war Simeon«, sagte Belbo, »und meines Erachtens war er auf die Säule geklettert, um denen, die unten vorbeikamen, auf den Kopf zu spucken.«
»Ich hasse den Geist der Aufklärung«, sagte Diotallevi. »Auf jeden Fall gab's einen Säulenheiligen mit Würmern, wie ich gesagt habe, ob nun Makarios oder Simeon. Doch ich bin keine Autorität in diesen Dingen, denn ich kümmere mich nicht um die Narreteien der Gojim.«
»Und deine Rabbiner von Gerona, die waren sauber, ja?«, fragte Belbo.
»Sie lebten in dreckigen Löchern, weil ihr Gojim sie ins Ghetto verbannt hattet. Eure Templer dagegen besudelten sich aus Lust«
»Dramatisieren wir nicht«, sagte ich. »Haben Sie je einen Trupp Rekruten nach einem Marsch gesehen? Aber ich habe Ihnen das alles bloß erzählt, um den inneren Widerspruch der Templer zu verdeutlichen. Ein Templer musste asketisch und mystisch sein, er durfte nicht fressen und saufen und vögeln, aber er zog durch die Wüste und schnitt den Feinden Christi die Köpfe ab, und je mehr er abschnitt, desto mehr Abschnitte sammelte er für seine Eintrittskarte ins Paradies, er stank und wurde jeden Tag struppiger, und dann kam der heilige Bernhard daher und verlangte auch noch, dass er, wenn er eine Stadt erobert hatte, nicht über die kleinen Maurenmädchen herfiel oder, was weiß ich, auch über die älteren, und dass er in mondlosen Nächten, wenn, wie man weiß, der Samum durch die Wüste fegt, sich nicht eine kleine Gefälligkeit von seinem bevorzugten Kameraden erweisen ließ! Wie schafft man das, gleichzeitig Mönch und Haudegen zu sein? Du schlitzt Bäuche auf und sprichst dazu das Ave Maria, du darfst deiner eigenen Cousine nicht ins Gesicht sehen, und dann kommst du nach tagelanger Belagerung in eine Stadt, die anderen Kreuzfahrer treiben's vor deinen Augen mit der Frau des Kalifen, wundervolle Suleikas öffnen ihre Korsetts und sagen: Nimm mich, nimm mich, aber lass mir das Leben... Nix da, von wegen, der Templer muss standhaft bleiben, stinkig und struppig, wie ihn der heilige Bernhard wollte, und fromm das Abendgebet rezitieren... Andererseits, man braucht nur mal die Retraite zu lesen ...«
»Was ist das?«
»Verhaltensregeln des Ordens, ziemlich spät verfasst, als der Orden schon sozusagen in Pantoffeln war. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Armee, die sich langweilt, weil der Krieg vorbei ist. Da werden zum Beispiel an einem bestimmten Punkt Raufereien verboten, Verletzungen eines Christen aus Rache, Umgang mit einer Frau, Verleumdungen eines Bruders. Man darf keinen Sklaven entkommen lassen, nicht aufgebracht sagen: ›Ich haue ab zu den Sarazenen!‹, kein Pferd aus Unachtsamkeit verlieren, keine Tiere verschenken außer Hunden und Katzen, nicht ohne Erlaubnis fortgehen, das Siegel des Meisters nicht zerbrechen, nicht bei Nacht das Quartier verlassen, kein Geld des Ordens verleihen, ohne dazu ermächtigt zu sein, nicht wütend die Kleider auf den Boden werfen ...«
»Verboten kann man entnehmen, was die Leute gewöhnlich tun«, sagte Belbo. »Man kann daraus ein Bild des Alltagslebens gewinnen.«
»Na, schauen wir mal«, sagte Diotallevi. »Ein Templer, aufgebracht durch irgendwas, was die Brüder am Abend zu ihm gesagt oder mit ihm gemacht haben, verlässt heimlich in der Nacht das Quartier, zu Pferd, mit einem maurischen Knappen und drei Kapaunen am Sattel; er reitet zu einer Frau mit lockerem Lebenswandel, schenkt ihr die Kapaune und verschafft sich dadurch Gelegenheit zu einem unerlaubten Beischlaf... Dann, während sie's treiben, macht sich der Maurenbengel mit dem Pferd aus dem Staub, und unser Templer, noch stinkender, verschmitzter und struppiger als gewöhnlich, kommt mit eingezogenem Schwanz nach Hause und zahlt, um nicht verraten zu werden, ein Schweigegeld (aus der Kasse des Ordens) an den üblichen jüdischen Wucherer, der am Tor auf ihn wartet wie ein Geier auf der Stange ...«
»Du sagst es, Kaiphas«, warf Belbo ein.
»Nun ja, man redet halt so in Klischees. Am nächsten Tag bemüht sich unser Templer, wenn schon nicht den Knappen, so wenigstens einen Anschein von seinem Pferd wiederzukriegen. Aber ein Mitttempler kommt ihm auf die Schliche, und am Abend (man weiß ja, in diesen Gemeinschaften ist der Neid zu Hause), als zur allgemeinen Zufriedenheit das Fleisch auf den Tisch kommt, macht er schlüpfrige Anspielungen. Der Hauptmann schöpft Verdacht, der Verdächtige verheddert sich, wird rot, zieht den Dolch aus dem Gürtel und stürzt sich auf den Mitbruder... « »Den Sykophanten«, präzisierte Belbo. »Den Sykophanten, richtig, er stürzt sich auf den Denunzianten und verunstaltet ihm das Gesicht. Dieser greift zum Schwert, die beiden beginnen zu raufen, der Hauptmann brüllt ›Ruhe da!‹ und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, die Brüder grinsen... « »Trinkend und fluchend wie Templer...«, ergänzte Belbo. »Gottverflucht, Gottverdammt, Herrgottsakrament, Himmelnochmal, Potzblitzdonnerundschwefel, Jesusmariaundjoseph!« dramatisierte ich.
»Kein Zweifel, unser Mann gerät außer sich, er... zum Teufel, was macht ein Templer, wenn er außer sich gerät?« »Er läuft blauviolett an«, erwog Belbo. »Genau, du sagst es, er läuft blauviolett an, reißt sich die Kleider vom Leib und wirft sie zu Boden ...«
»Und brüllt: Behaltet dies elende Dreckshemd, ihr und euer Scheißtempel!« schlug ich vor. »Oder vielmehr, er haut mit dem Schwert auf das Siegel, zerbricht es und brüllt: Ich haue ab zu den Sarazenen!«
»Damit hat er mindestens acht Vorschriften auf einen Schlag verletzt.«
»Ja«, sagte ich und ergänzte, um meine These noch besser zu illustrieren: »Können Sie sich so einen Typ vorstellen, der sagt, ich haue ab zu den Sarazenen, wenn ihn dann eines Tages der Blutvogt des Königs verhaftet und ihm die glühenden Eisen zeigt? Rede, Götzendiener! Gestehe, ihr habt ihn euch in den Hintern gesteckt. Was, wir? Ha, eure Zangen machen mich lachen, ihr wisst ja gar nicht, wozu ein Templer fällig ist: Euch steck ich ihn in den Hintern, euch und dem Papst, und wenn er mir unter die Finger kommt, auch dem König Philipp!«
»Er hat gestanden, er hat gestanden! jawohl, so ist es bestimmt gewesen«, rief Belbo. »Abführen! Ins Verlies mit ihm, und jeden Tag eine Kanne Öl drauf, damit er hinterher besser brennt!«
»Wie die kleinen Kinder«, schloss Diotallevi.
Ein Mädchen trat an unseren Tisch, mit einem Leberfleck auf der Nase und Blättern in der Hand. Sie fragte, ob wir schon für die verhafteten Genossen in Argentinien unterschrieben hätten. Belbo unterschrieb sofort, ohne den Text zu lesen. »Auf jeden Fall geht's ihnen schlechter als mir«, sagte er zu Diotallevi, der ihn bestürzt ansah. Dann wandte er sich an das Mädchen: »Er kann nicht unterschreiben, er gehört zu einer indischen Minderheit, bei der es verboten ist, den eigenen Namen zu schreiben. Viele von ihnen sind im Gefängnis, weil die Regierung sie verfolgt« Das Mädchen sah Diotallevi verständnisvoll an und reichte das Blatt zu mir weiter. Diotallevi entspannte sich.
»Wer sind sie?«, fragte ich.
»Was heißt, wer sind sie? Genossen in Argentinien!«
»Ja schon, aber von welcher Gruppe?«
»Taquaras, wieso?«
»Aber die Taquaras sind doch Faschisten«, wagte ich einzuwenden, nach dem bisschen, was ich davon verstand.
»Faschist!« zischte das Mädchen. Und ging davon.
»Aber dann waren diese Templer doch eigentlich arme Teufel«, meinte Diotallevi.
»Nein«, sagte ich, »es ist meine Schuld, wenn dieser Eindruck entstanden ist, ich habe versucht, die Geschichte möglichst lebendig zu machen. Was wir gesagt haben, gilt für die einfache Truppe, aber der Orden erhielt von Anfang an riesige Schenkungen und hatte bald Komtureien in ganz Europa. Stellen Sie sich vor, König Alfons von Aragonien schenkt ihnen ein ganzes Land, und in seinem Testament vermacht er ihnen sogar sein Reich für den Fall, dass er ohne Erben stirbt. Die Templer trauen ihm nicht und machen eine Transaktion, so nach dem Muster: Nein danke, wir hätten lieber ein paar Kleinigkeiten gleich jetzt Aber diese Kleinigkeiten sind ein halbes Dutzend Burgen in Spanien. Der König von Portugal schenkt ihnen einen Wald, der noch von den Mauren besetzt ist, die Templer erstürmen ihn, verjagen die Mauren und gründen einfach so mal die Stadt Coimbra. Und das sind bloß Episoden. Kurz und gut, ein Teil von ihnen kämpft in Palästina, aber das Gros des Ordens entwickelt sich in der Heimat. Und was passiert? Wenn jemand nach Palästina muss und dort Geld braucht und sich nicht traut, mit Juwelen und Gold hinzureisen, überweist er's den Templern in Frankreich oder in Spanien oder Italien, erhält dafür einen Gutschein und löst ihn im Orient ein.«