Hauptsport der Viottolos war, Patronenhülsen und andere Kriegsüberbleibsel zu sammeln, woran nach dem 8. September kein Mangel war, zum Beispiel alte Stahlhelme, Patronengürtel und Proviantbeutel, manchmal auch noch intakte Patronen. Um eine intakte Patrone zu benutzen, ging man so vor: man nahm sie vorsichtig in die Hand, führte sie in ein Türschloss ein und drehte sie fest; dann ließ das Geschoss sich herausschrauben und kam in die Spezialsammlung. Die Hülse wurde vom Pulver entleert (manchmal enthielt sie auch ein Material in Form dünner Schnüre), das dann in Serpentinen ausgelegt und abgebrannt wurde. Die Hülse, die um so mehr galt, wenn die Kapsel noch intakt war, kam als Neuzugang in die Armee. Ein guter Sammler hatte viele davon, die er wie Zinnsoldaten aufstellte, sortiert nach Fabrikat, Farbe, Form und Größe. Da gab es die einfachen Fußsoldaten — die Hülsen der italienischen MP und der englischen Sten —, dann die Bannerträger und Ritter — Moschetto-Karabiner, Sturmgewehr 91 (das Garand sahen wir erst bei den Amerikanern) — und schließlich, die begehrteste Trophäe, als hoch aufragende Großmeister die MG-Hülsen.
Während wir uns diesen Friedensspielen hingaben, eröffnete Martinetti uns eines Tages, dass der Moment gekommen sei. Die Duellforderung sei der Canalettobande zugestellt worden, und sie habe den Fehdehandschuh aufgenommen. Der Kampf werde auf neutralem Boden stattfinden, hinterm Bahnhof. Heute Abend um neun.
Es war ein sommerlicher Spätnachmittag, schwülwarm und voller Erregung. Jeder von uns rüstete sich mit den fürchterlichsten Paraphernalien, schnitzte sich Knüppel, die gut in der Hand lagen, füllte sich die Patronen- und Provianttaschen mit Steinen in verschiedener Größe. Einer hatte sich aus dem Riemen eines Karabiners eine Peitsche gemacht, eine schreckliche Waffe, wenn sie entschlossen gehandhabt wurde. Zumindest in jenen Abendstunden fühlten wir uns allesamt als Helden, ich besonders. Es war die Erregung vor dem Angriff, stechend, schmerzlich, wunderbar — leb wohl, meine Schöne, leb wohl, hart und süß ist das Los des Kriegers, wir schickten uns an, unsere Jugend zu opfern, wie man es uns vor dem 8. September in der Schule gelehrt hatte.
Martinettis Plan war raffiniert ausgedacht: wir würden den Bahndamm weiter nördlich überqueren, um sie von hinten zu fassen, unerwartet, praktisch bereits als Sieger. Dann drauf mit Gebrüll und keine Gnade.
Bei Einbruch der Dämmerung kletterten wir wie geplant die steile Böschung hinauf, schwer beladen mit Steinen und Knüppeln. Oben angelangt, sahen wir sie schon hinter dem Bahnhofsklo stehen. Sie erblickten uns sofort, da sie genau in unsere Richtung spähten. So blieb uns nichts anderes übrig, als möglichst schnell runterzulaufen, ohne ihnen Zeit zu lassen, sich lange über die Evidenz unserer Taktik zu wundern.
Niemand hatte uns vor dem Angriff mit Feuerwasser versorgt, aber wir stürmten trotzdem voran mit Gebrüll. Dann, etwa hundert Meter vorm Bahnhof, geschah es. Dort standen die ersten Häuser des Dorfes, und obwohl es nur wenige waren, bildeten sie doch schon ein kleines Gassengewirr. Es geschah, dass die kühnste Gruppe sich furchtlos auf die Feinde stürzte, während ich und — zu meinem Glück — ein paar andere die Gangart verlangsamten und hinter den Ecken der Häuser stehen blieben, um aus der Ferne zuzusehen.
Hätte uns Martinetti in Vor- und Nachhut eingeteilt, wir hätten nur unsere Pflicht getan, aber so war's eine Art von spontaner Aufteilung. Die Mutigen vorn, die Feigen hinten. Und aus unserem Schlupfwinkel, ich noch ein Stückchen weiter hinter den andern, beobachteten wir den Kampf. Der nicht stattfand.
Als sich die beiden Gruppen bis auf ein paar Meter genähert hatten, machten sie halt und standen sich zähnefletschend gegenüber. Die Anführer traten vor und verhandelten. Es war ein Jalta, sie beschlossen, sich die Einflusszonen zu teilen und gelegentliche Transite zu dulden, wie einst die Christen und Moslems im Heiligen Land. Die Solidarität zwischen den beiden Ritterheeren obsiegte (ist das ein Gallizismus?) über die Unausweichlichkeit der Entscheidungsschlacht. Jeder hatte eine schöne Mutprobe abgelegt. In schöner Eintracht zogen sie sich auf gegnerische Seiten zurück. In schöner Eintracht zogen die Gegner sich auf entgegengesetzte Seiten zurück. Sie gingen einträchtig auseinander.
Heute sage ich mir, dass ich damals stehen geblieben war, weil ich lachen musste. Aber damals sagte ich mir das nicht. Ich fühlte mich einfach nur feige.
Heute sage ich mir, noch feiger, wenn ich damals weitergelaufen wäre, hätte ich nichts riskiert und in den folgenden Jahren besser gelebt. Ich habe die GELEGENHEIT verpasst, mit zwölf Jahren. Und das ist, wie wenn man beim ersten Mal keine Erektion hat: man bleibt impotent fürs ganze Leben.
Einen Monat danach, als die Viottolos und die Canalettos sich aufgrund einer zufälligen Grenzverletzung unversehens auf offenem Feld gegenüberstanden und Erdklumpen aufeinander zu schmeißen begannen, trat ich, vielleicht beruhigt durch den Verlauf der letzten Begegnung, vielleicht auch begierig auf Märtyrertum, in die erste Reihe vor. Es war ein unblutiger Zusammenstoß, außer für mich. Einer der Erdklumpen, der offenkundig ein Herz von Stein in sich barg, traf mich an der Lippe und spaltete sie. Ich floh, rannte heulend nach Hause, und meine Mutter musste lange mit einer Pinzette herumpulen, um mir die Krümel aus der Wunde zu holen, die sich innen im Mund gebildet hatte. Tatsache ist, dass ich noch heute ein kleines Knötchen vorn im Mund habe, unter dem rechten unteren Eckzahn, und wenn ich mit der Zunge drüberfahre, spüre ich ein Vibrieren, ein leichtes Erschauern.
Aber dieses Knötchen erteilt mir keine Absolution, denn ich habe es mir aus Versehen zugezogen, nicht aus Mut. Ich fahre mit der Zunge drüber, und was tue ich? Ich schreibe. Aber schlechte Literatur erlöst nicht.
Nach jener Demonstration sah ich Belbo etwa ein Jahr lang nicht mehr. Ich hatte mich in Amparo verliebt und ging nicht mehr zu Pilade, beziehungsweise die wenigen Male, wenn ich mit Amparo auf einen Sprung hineingeschaut hatte, war Belbo nicht da gewesen. Und Amparo mochte das Lokal nicht. Ihr moralischer und politischer Rigorismus — vergleichbar nur ihrer Anmut und ihrem herrlichen Stolz — ließ sie Pilade als einen Club für demokratische Dandys empfinden, und den demokratischen Dandyismus betrachtete sie als ein Element, das subtilste, des kapitalistischen Herrschaftsgefüges. Es war ein Jahr voller Engagement, in großem Ernst und großer Freude. Ich arbeitete lustvoll, aber in Ruhe an meiner Dissertation.