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Eines Tages traf ich Belbo auf der Straße, nur wenige Schritte vor seinem Büro. »Hallo, sieh da«, rief er freudig, »mein Lieblingstempler! Gerade hat mir jemand ein Destillat von unsäglichem Alter geschenkt. Wie wär's, wollen Sie nicht auf einen Sprung mit raufkommen? Ich habe Pappbecher und den Nachmittag frei.«

»Das ist ein Zeugma«, bemerkte ich.

»Nein, ein Bourbon, ich glaube aus der Zeit vor dem Fall von Alamo.«

Ich ging mit hinauf. Aber kaum hatten wir einen Schluck probiert, kam Gudrun herein und sagte, da wäre ein Herr. Belbo schlug sich mit der Hand an die Stirn. Er habe diese Verabredung ganz vergessen, sagte er, aber die Sache rieche nach einer Verschwörung. Soweit ich begriff, wollte der Typ ihm ein Buch präsentieren, in dem es auch um die Templer ging. »Ich werde ihn gleich abwimmeln«, meinte Belbo. »Aber helfen Sie mir mit scharfsinnigen Bemerkungen.«

Es war bestimmt nur ein Zufall gewesen. Und so ging ich ins Netz.

17

So verschwanden die Tempelritter mit ihrem Geheimnis, in dessen Schatten eine schöne Hoffnung auf die irdische Stadt pulsierte. Aber das Abstraktum, an das ihr Bemühen gekettet war, setzte sein unerreichbares Leben in unbekannten Regionen fort... und mehr als einmal im Laufe der Zeiten ließ es seine Inspiration in die Geister derer fließen, die sie aufzunehmen vermochten.

Victor Emile Michelet, Le secret de la Chevalerie, 1930, 2

  Er hatte ein Gesicht wie aus den vierziger Jahren. Nach den alten Illustrierten zu urteilen, die ich zu Hause im Keller gefunden hatte, mussten alle Leute in den vierziger Jahren so ein Gesicht gehabt haben. Muss der Hunger gewesen sein, der in Kriegszeiten herrscht: er macht die Wangen hohl und die Augen fiebrig. Ich hatte das Gesicht in Erschießungsszenen gesehen, auf beiden Seiten. In jenen Zeiten erschossen sich Männer mit gleichen Gesichtern gegenseitig.

Gekleidet war er in einen blauen Anzug mit weißem Hemd und perlgrauer Krawatte, ich fragte mich unwillkürlich, warum er in Zivil gekommen war. Das unnatürlich schwarze Haar war an den Schläfen glatt zurückgebürstet in zwei maßvoll pomadisierten Strähnen und ließ auf dem blanken Schädel feine Streifen, regelmäßig wie Telegrafendrähte, die sich V-förmig von der Stirn aus verteilten. Das Gesicht war braun gebrannt und gezeichnet, nicht nur von — explizit kolonialen — Furchen. Eine bleiche Narbe furchte die linke Wange, von der Lippe bis zum Ohr, und da er ein schwarzes Menjoubärtchen trug, war auch dessen linke Seite kaum merklich gefurcht an der Stelle, wo die Haut sich weniger als einen millimeterbreit geöffnet und wieder geschlossen hatte. Mensurschmiss oder Streifschuss?

Er stellte sich vor: Oberst Ardenti, reichte Belbo die Hand und nickte mir zu, als Belbo mich als seinen Mitarbeiter definierte. Setzte sich, schlug die Beine übereinander, zog sich die Hose über den Knien zurecht und entblößte dabei ein Paar braune Socken, kurze.

»Oberst ... im aktiven Dienst?«, fragte Belbo.

Ardenti entblößte einige teure Prothesen: »Eher in Pension. Oder, wenn Sie so wollen, in der Reserve. Sieht vielleicht nicht so aus, aber ich bin nicht mehr der Jüngste.«

»Sieht nicht so aus«, sagte Belbo.

»Dabei habe ich vier Kriege mitgemacht«

»Da mussten Sie ja mit Garibaldi angefangen haben.«

»Nein. Erst Leutnant, als Freiwilliger, in Abessinien. Dann Hauptmann, als Freiwilliger, in Spanien. Dann Major, erneut in Afrika, bis zur Aufgabe jener Küste. Silbermedaille. Dreiundvierzig dann ... Sagen wir: ich hatte die Verliererseite gewählt. Habe alles verloren, außer der Ehre. Hatte jedoch den Mut, neu anzufangen. Fremdenlegion. Brutstätte für Helden. Sechsundvierzig Sergeant, achtundfünfzig dann Oberst, bei Massu. Offenbar wähle ich immer die Verliererseite. Als der Linke de Gaulle an die Macht kam, ließ ich mich pensionieren und ging nach Frankreich. Hatte mir gute Kontakte in Algerien aufgebaut und gründete eine Export-Import-Firma in Marseille. Diesmal hatte ich, glaube ich, die siegreiche Seite gewählt, denn jetzt lebe ich von der Rendite und kann mich meinem Hobby widmen — so sagt man doch heutzutage, oder? Und in den letzten Jahren habe ich die Ergebnisse meiner Forschungen zu Papier gebracht. Hier ... « er öffnete seine Ledermappe und zog einen dicken Ordner hervor, der mir damals rot erschien.

»Also«, sagte Belbo, »ein Buch über die Templer?«

»Die Templer«, nickte der Oberst. »Eine Passion, die ich quasi seit meiner Jugend habe. Auch sie waren Glücksritter, die auf der Suche nach Ruhm durchs Mittelmeer zogen.«

»Herr Casaubon beschäftigt sich mit den Templern«, sagte Belbo. »Er kennt die Thematik besser als ich. Erzählen Sie.«

»Die Templer haben mich schon immer interessiert. Ein Häuflein edler Ritter, die das Licht Europas unter die Wilden der beiden Tripolis trugen ...«

»Die Gegner der Templer waren eigentlich gar nicht so wild«, sagte ich in konziliantem Ton.

»Sind Sie je Gefangener der Rebellen im Maghreb gewesen?«, fragte er mich sarkastisch.

»Bisher nicht.«

Er fixierte mich, und ich war froh, nie in seiner Truppe gedient zu haben. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu Belbo, »ich gehöre zu einer anderen Generation.« Er sah mich herausfordernd an. »Sind wir hier, um einen Prozess zu führen, oder um ...«

»Wir sind hier, um über Ihre Arbeit zu sprechen, Herr Oberst«, sagte Belbo. »Bitte erzählen Sie uns davon.«

»Ich möchte eines gleich klarstellen«, sagte der Oberst und legte eine Hand auf seinen Ordner. »Ich bin bereit, zu den Publikationskosten beizutragen, ich schlage Ihnen kein Verlustgeschäft vor. Wenn Sie wissenschaftliche Garantien verlangen, kann ich sie Ihnen bringen. Gerade erst vor zwei Stunden habe ich mich mit einem einschlägigen Experten getroffen, der eigens aus Paris hergekommen ist. Er wird ein maßgebliches Vorwort schreiben können ... « Er erriet Belbos Frage und winkte ab, als wollte er sagen, dass es im Augenblick besser sei, angesichts der Delikatheit des Falles keine Namen zu nennen.

»Doktor Belbo«, sagte er dann, »hier auf diesen Seiten habe ich das Material für eine Geschichte. Eine wahre. Und keine banale. Besser als die amerikanischen Kriminalromane. Ich habe etwas gefunden, etwas sehr Wichtiges, aber es ist nur der Anfang. Ich möchte öffentlich mitteilen, was ich weiß, damit diejenigen, die dieses Puzzlespiel vervollständigen können, es lesen und sich bemerkbar machen. Ich möchte einen Köder auswerfen. Und ich muss es unverzüglich tun. Derjenige, der vor mir in Erfahrung gebracht hatte, was ich heute weiß, ist vermutlich umgebracht worden, eben damit er sein Wissen nicht verbreiten konnte. Wenn ich das, was ich weiß, zweitausend Lesern sage, wird niemand mehr daran interessiert sein, mich aus dem Weg zu räumen.« Er machte eine Pause. »Die Herren wissen etwas über die Verhaftung der Templer?«

»Herr Casaubon hat mir kürzlich davon erzählt, und es hat mich frappiert, dass sich die Templer so widerstandslos verhaften ließen und offenbar nichts ahnten ...«

Der Oberst lächelte mitleidig. »In der Tat. Es ist kindisch zu glauben, dass Leute, die so mächtig waren, dass der König von Frankreich vor ihnen zitterte, nicht in der Lage gewesen sein sollten, rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, dass vier Halunken den König gegen sie aufhetzten und dass der König daraufhin den Papst aufhetzte. Nein, ich bitte Sie! Da muss es doch einen Plan gegeben haben. Und zwar einen weitreichenden, hochgespannten, ja erhabenen Plan. Nehmen Sie an, die Templer hätten einen Plan zur Eroberung der Welt gehabt und das Geheimnis einer immensen Machtquelle gekannt, ein Geheimnis, für das kein Opfer zu groß war, für dessen Bewahrung es sich sogar lohnte, das ganze Pariser Hauptquartier aufzugeben, die über ganz Frankreich, Spanien, Portugal, England, Italien verstreuten Güter, und die Burgen im Heiligen Land, die monetären Guthaben, alles ... Philipp der Schöne muss es geahnt haben, warum sonst sollte er eine Verfolgung auslösen, die schließlich die Blüte der französischen Ritterschaft in Misskredit brachte. Die Templer begreifen, dass der König begriffen hat und sie zu vernichten trachtet, es hat keinen Sinn, ihm frontal entgegenzutreten, der Plan erfordert Zeit, der Schatz, oder was immer es gewesen sein mag, muss erst noch genauer lokalisiert werden, oder man kann ihn nur langsam ausbeuten ... Und die geheime Führung des Tempels, deren Existenz mittlerweile alle einräumen ...«