Der Arzt riß die Plastikhülle von einem der Instrumente. Die rasierklingenscharfe Schneide eines Skalpells blitzte auf. Seine Hände, die schon so vielen entstellten Gesichtern ihre alte Symmetrie oder auch neue Schönheit geschenkt hatten, zitterten nicht, als er das Messer wiegte, wie wenn er sein Gewicht prüfen wollte.
»Du weißt, daß es ein Entweder-Oder gibt«, sagte Eric. »Entweder du bist frei. Oder es ist aus mit dir. Verstanden?«
»Beruhige dich«, antwortete der Chirurg. »Ich bin kein Richter und schon gar kein Henker. Und steh mir mit deinem Spielzeug nicht im Weg herum!«
Er schob Eric und seine Pistole beiseite und trat zu seinem Patienten. Unter seinen Händen würde jetzt ein fesselndes, ebenmäßiges Gesicht zu nichtssagendem, blassen Durchschnitt werden. Er riß den eingeschmolzenen Kunststoffpfropfen vom Hals eines Fläschchens und schwenkte es über einem Wattebausch. Dann begann er, Mund, Nase und Wangen des Patienten einzureiben. Seine Finger wieselten über Requisiten und Haut. Er schaute nicht mehr auf. Er arbeitete.
Von Zeit zu Zeit blickte Eric nach der Uhr. Sein Zeitplan schien zu stimmen. Der Arzt schnitt, sägte, reinigte und nähte. Ein Stück Nasenbein knackte unter der Zange. Die eiligen Hände setzten eine Klammer ein. Die Haut der beiden Wangen klaffte. Die flinken Hände schoben zwei Scheiben Gewebekultur darunter. Metall blitzte an den Mundecken. Blut sickerte. Die eifrigen Hände trennten und verbanden, stülpten um, kneteten, formten.
Ein kaum wahrnehmbares Aufstöhnen ließ Eric zur Seite sehen. Ruth war unbemerkt hereingekommen und starrte auf das blutige zersäbelte Gesicht ihres Geliebten. Sie war kalkbleich.
Eric winkte mit der Pistole: »Raus hier!«
Ruth ging fort.
»Tupfer«, forderte der Arzt, und Eric reichte ihm das Stäbchen mit dem Wattebausch aus der Flasche. Wieder strichen die Finger über das Gesicht, wischten, drückten, kreisten, wie in einer magischen Beschwörung.
Der Chirurg trat zurück. »Fertig.«
Eric blickte nach der Uhr. Seine Zeiteinteilung war in Ordnung.
»Nach acht Stunden nehmt ihr die Verbandschicht ab.«
Lovis richtete sich auf. Vorsichtig tastete er nach dem dünnen weißen Plastikfilm, der die veränderten Partien seines Gesichts bedeckte. Er sah so gespenstisch aus wie ein Clown während des Abschminkens.
»Gut gearbeitet, Professor«, sagte Eric. »Ist noch etwas zu beachten?«
Der Chirurg schüttelte den Kopf.
»Überlege es dir gut – müssen wir noch irgend etwas tun, damit alles gut verheilt?« Eine steile Falte stand über Erics Nasenwurzel.
»Nichts«, antwortete der Professor.
Eric hob die Pistole und schoß. Die ruhigen und doch so lebendigen Finger des Arztes flatterten, tasteten fahrig umher, fingen sich an einem Tablett mit Skalpellen. In den dumpf dröhnenden Auffall seines Körpers mischte sich das Geklirr der über den Boden hüpfenden Instrumente.
Die Tür flog auf. Ruth stürmte herein.
»Was ist...? Bist du...?« Sie lief auf Lovis zu und riß an seinen Rockaufschlägen. »Warum habt ihr das gemacht?«
Lovis stieß sie unsanft zurück. »Halt uns nicht auf!«
Eric hielt die Pistole noch immer waagrecht. »Am besten, auch sie bleibt hier. Soll ich...?«
»Sie kommt mit«, sagte Lovis gelangweilt und verließ rasch den Raum.
Der Riesenplanet Amaryll badete im weißblauen Glanz seiner Sonne, wie an jedem seiner langen Tage. Die Kontinente lagen wie gelappte farblose Blätter einer schwimmenden Pflanze in den schwarzen Lavamassen, deren schwaches Glühen auf seiner Schattenseite zu erkennen war. Kuppenblöcke aus Basalt bildeten seine Gebirge, dazwischen lagen Täler, in denen es flimmerte und flirrte – Seen aus dem, schweren Gas Schwefeldioxyd.
Der Planet hatte es den Menschen nicht leicht gemacht. Zwar besaß er Luft, aber sie war von giftigen Gasen – von Schwefeldioxyd, Schwefelwasserstoff und Kohlendioxyd – durchsetzt. Ohne Gasmaske war es nur für kurze Zeitspannen möglich, sich im Freien aufzuhalten. Die Anziehungskraft war bedeutend stärker als die der Erde, doch war die Rotationsgeschwindigkeit so groß, daß sie am Äquator durch die Zentrifugalkraft mehr als ausgeglichen wurde und auch in mittleren Breiten noch erträglich war. Dasselbe galt für den Luftdruck.
Und doch hatte sich der Mensch hier festgesetzt. Er lebte auf den weiten, von kristallinen Krusten überzogenen Ebenen, auf denen man Minerale und Erze im Tagbau gewinnen konnte. Er stellte erst seine Häuser und dann seine Siedlungen und Dörfer in durchsichtige Halbkugeln aus Polysiliziden, die mit filtrierter Luft gefüllt waren. Je mehr Menschen auf den Planeten kamen, um so näher rückten die glasigen Blasen zusammen und bildeten an manchen Stellen Überzüge, die von weitem wie eine Schicht von Flockenschaum aussahen. Die größten Kuppeln besaßen Durchmesser von tausend Metern.
Etwa ein Dutzend solcher Riesenkuppeln bildeten den Raum der Stadt Holder, der Hauptstadt des gleichnamigen Landes. Im Zentrum lagen die Verwaltungsgebäude und Kulturstätten, in der Peripherie die Wohnblöcke, und ganz außen, unter einem Kranz von kleineren Kuppeln, die Energiezentren, Fabriken und Pflanzungen.
Das war sechs Jahre lang das Reich Lovis’ gewesen, nachdem er durch einen Staatsstreich die Herrschaft an sich gerissen hatte. Jetzt war es sein Gefängnis, dem es zu entrinnen galt.
Eric ging voran, durch ein und noch ein Zimmer, in einen Korridor, in einen Saal – die Bibliothek. Er schob ein Regal mit Mikrofilmen beiseite, eine Tür kam zum Vorschein. Lovis trat ein, Ruth folgte, Eric zog das Regal wieder vor. Finsternis umgab sie, Lovis ließ eine Taschenlampe aufleuchten. Sie befanden sich in einem Lift. Eric ließ einen Kontakt schnappen, und sie sanken in die Tiefe. Es ging ohne Motor, der Aufzug folgte der Schwerkraft, er wurde nur dieses eine Mal gebraucht. Eine Feder schnappte ein, die Bremsvorrichtung knirschte. Sie stiegen aus.
Ein Gang. Stufen. Türen. Ecken, Winkel. Hallen. Eric öffnete eine Tür, Lovis trat hindurch, Ruth folgte. Eric schloß die Tür. Eine leere Schlucht. Endlose Stiegen. Absätze. Stiegen. Eine Falltür. Lovis trat hinab, Ruth folgte. Eric ließ die Klappe über sich zufallen. Ein enger abschüssiger Gang. Eine Biegung. Schwarze Leere.
Eric stand an einem Schaltbrett. Er brauchte seine Taschenlampe nicht, er kannte sich aus. Eine Perlenkette von Lichtern peitschte in einen unabsehbaren Tunnel hinein. Darunter hing ein silbernes Band und zielte auf jenen fernen Punkt, in dem es sich mit der Lichterkette traf. Ein einzelner Wagen der unterirdischen Einschienenbahn stand auf der leicht abfallenden Strecke. Ein Bremsklotz hielt ihn wie ein eingestemmtes Knie.
Eric wartete noch am Schaltbrett. Er drehte einen Hebel um. Ein sachter Stoß schüttelte sie, der Boden schien drei Sekunden lang aus einer weichen Masse zu bestehen, dann grollte ein Donnern auf, ein dumpfer, langsam anschwellender Urlaut aus dem Innern der Erde, und dann wischte ein Hauch über sie hinweg, ein heftiger Atemzug aus dem offenen Hals des hinter ihnen liegenden Ganges.
»Erledigt«, sagte Eric. »Steigt ein.«
Ruth lauschte angestrengt. »Was war das?«
»Das war mein Palast«, antwortete Lovis. »Glaubst du, ich bewahre ihn für meinen Nachfolger auf?«
Eric bückte sich zur Schiene hinunter und drehte an einer Flügelschraube. »Einsteigen!«
Lovis trat vom schmalen Absatz des Bahnsteiges auf den Boden des Wagens, der in derselben Höhe lag, und zog Ruth nach sich.
Eric hob den Bremsblock ab und betrat als dritter den Wagen. Er ging zum gewölbten Vorderfenster und ließ den Schwenkarm der Öldruckbremse zurückrasten. Unmerklich und erschütterungsfrei setzte sich der Wagen in Bewegung, der Bahnsteig glitt zurück, die hohle Röhre des Bahntunnels stülpte sich über sie, die Lichter wanderten, liefen, schnellten auf sie zu, bis die Kette zu einem Lichtstreif wurde und so still zu stehen schien wie die Schiene, über die sie auf hitzefesten Elastikrädern dahinrollten.