»Eine U-Bahn nur für uns«, sagte Lovis. »Schätzchen, bald sind wir in Sicherheit! Freust du dich?«
Ruth beobachtete die Lichtschlangen in der Röhre vor sich, deren Wände durch die Bewegung glatt und schimmernd aussahen. Es zischte. Der Wagen lag auf einem Polster aus gestauter Luft. Ein Geschoß im Lauf eines Geschützes, dachte Ruth.
»Kann uns hier niemand aufhalten?« fragte sie.
Lovis lächelte. Unter seinem Verband war es eine scheußliche Grimasse. »Wir haben diese Strecke vor Jahren stillgelegt. Alle Ausgänge sind vermauert – bis auf jene, die wir noch brauchen können.«
Das gelbe Licht wurde schlagartig rot. Eric zog die Bremse wieder an. Der Lichtpfeil über ihnen flirrte, zuckte und zerfiel in einzelne rote Augen. Der Schlauch der Röhre blähte sich zu einer Halle. Eric schraubte die Bremse fest. Die Fahrt war zu Ende. Sie stiegen aus.
»Wo sind wir?« fragte Ruth. Sie wandte sich an Lovis. Eric existierte nicht für sie.
»Hier ist die alte Endstation der U-Bahn. Wir sind schon am Rand der Stadt, bei den Wasserspeichern. Komm jetzt, dort geht es hinauf!«
Eric war vorangegangen. Er stützte sich auf ein Eisengeländer und schaute wie von einer Tribüne auf die Halle hinab. Aus der Betonwand neben ihm ragte ein Hebel. Er zeigte nach unten.
Ein Gurgeln klang von unten herauf, etwas schluckte kurz, dann rauschte es. Ein schwankender Spiegel lag auf einmal auf dem Boden, stieg empor, tappte in den Tunnel hinein.
»Wasser!« rief Ruth. »Lovis, ist es Wasser?«
»Was denn sonst, mein Kind? Wir versperren hinter uns den Weg.«
»Aber ihr könnt doch nicht... die Wasservorräte...«
»Wir brauchen kein Wasser mehr«, erklärte Lovis.
Die Lichterreihe unter ihnen erlosch. Die gurgelnden Geräusche schienen durch das Dunkel verstärkt zu werden. Lovis und Eric ließen ihre Taschenlampen aufflammen.
Sie stiegen die eisernen Stufen hinauf, etwa zweihundert Meter hoch, in einen grob ins Gestein gehauenen Stollen. Ihre Schritte hallten auf den Eisenstufen.
Wieder hielten sie vor einer Tür. Eric drehte eine Ziffernscheibe und stieß sie auf. Drückende Dunkelheit lag wie eine Flüssigkeit vor ihnen. Etwas kratzte... etwas rollte, klirrte, splitterte.
»Verflucht!« stieß Lovis hervor. »Da ist jemand!«
Ein Lichtstrahl irrte umher.
Lovis schlug Eric die Taschenlampe aus der Hand. »Kein Licht, du Narr. Los, wir müssen zurück!«
»Nur nicht nervös werden«, sagte Eric. Seine Stimme kam von vorn. Im Dunkeln hatte er den Schalter gefunden. Er drehte ihn um. Schmerzhaft ergoß sich Licht in ihre Augen. Ein lispelnder Pfiff ertönte. Über Hocker, Tischchen, Wandregale huschte es.
»Unsere erste Station«, sagte Eric.
»Die verdammten Ratten«, sagte Lovis.
Sie befanden sich in einer einfachen Bar. Die Theke war gelb gekachelt und erinnerte an einen Waschraum. Eine Reihe bunter Flaschen stand auf den Regalen, eine lag zerbrochen am Boden, eine dunkle Pfütze verbreitete sich um sie herum und der Geruch nach Schnaps. Ruth ging einige kurze Schritte vor; Staub wirbelte auf. Überall lag Staub, auf den Stühlen und Tischen, auf dem Wandspiegel, auf der Espressomaschine, auf der Musikbox, auf den Tellern und Gläsern.
Lovis drehte sich jäh herum. »Verdammt, Eric. Mach, daß das zu Ende geht.«
»Unsere erste Station«, sagte Eric. »Ruhe bis nach Mitternacht. Kaviar und leichte Musik.«
Er schlenderte zur Musikbox und steckte ein Geldstück in den Schlitz. In dem Lautsprecher knackte es, und dann wirbelten der Schlagbaß und die Cimbel im Stereoton, und eine dunkle Frauenstimme schleppte dem Rhythmus eine aufreizend langsame, monotone Melodie nach.
»Ruhe!« schrie Lovis. »Ruhe... sag’... ich...«
Er riß einen Barhocker am Bein empor und ließ ihn auf die bunte Glaspracht der Box niedersausen, unter der sich das mehrspurige Tonband ringelte.
Lovis setzte sich auf eine Bank und fluchte leise vor sich hin. Eric trat hinter die Theke, schenkte ein Glas Gin ein, ging um den Tisch herum und hielt es Lovis vors Gesicht. Lovis griff danach und trank in kurzen hastigen Schlucken. Er streckte Ruth die Hand entgegen und zog sie neben sich.
Eric stand vor Lovis und lächelte. Unter ihm schwebte die weiße Maske Lovis’ wie ein haltloses Ding im Raum. Das Lächeln von Eric war nicht böse und nicht spöttisch, nicht überlegen und nicht schadenfroh – eher mitleidig oder selbstvergessen. Immer wenn er in dieses Gesicht geblickt hatte, dann hatte es ihn in die Gegenwart gerufen, und auch nur in einen Teil der Gegenwart – in jenen, in dem es um Greifbares ging, um Geld, um Mädchen, um Landbesitz, um Waffen. Aber nun war es hinter einem Vorhang verborgen, übertüncht, sterilisiert, und das, was es in Eric wachrief, waren nicht die Nöte und Forderungen der Stunde, sondern die Erinnerungen und Sehnsüchte eines Jungen, der einen großen, starken Freund besaß – ein Vorbild an Erfolg, Macht und Willenskraft, ein Vorbild, das man nie erreicht, in dessen Aura aber man sich wärmen kann, wenn es auch nur eine geborgte Wärme ist. Eric hatte stets bedingungslos und gläubig gehorcht, und nach der Schule, als Lovis seinen Siegeszug beim Militär antrat, verfolgte er sein Idol aus der Ferne, ohne selbst etwas aus sich zu machen. Und dann kam der Bote, der ihn zu Lovis rief und der seinem Leben einen neuen Sinn gab und zugleich den alten wiederschenkte: ein getreuer, stummer Schatten Lovis’ zu sein.
Eric bemerkte nicht, daß ihn Ruth zum erstenmal aufmerksam beobachtete und daß für diese paar Minuten der Ausdruck des Abscheus, den sie stets für ihn bereithielt, verschwunden war.
Nach einer Weile richtete sich Lovis auf. »Was jetzt?«
Eric schnippte ein Stäubchen vom Ärmel.
»Du kennst den Plan. Von hier aus gibt es für uns zwei, drei sichere Wege, um weiterzukommen. Verstehst du: für uns zwei! Das Mädchen bleibt hier.«
Lovis hielt Ruth fest wie einen Besitz.
»Nein!«
»Lovis, überlege doch! In unserem Plan gibt es kein Mädchen. Es ist doch alles bis ins kleinste Detail festgelegt. Draußen, an der Ausfahrt nach Belem, liegen für uns zwei Schutzanzüge. Hörst du: zwei! Ohne sie kommen wir nicht bis zum Flugzeug. Bei den Kaliwerken sind zwei Turbinenschleudern eingebaut, genau zwei Stück. Und dann steht an der Südspitze der Schlepper bereit – aber nur für den äußersten Notfall; Proviant und Wasser sind für zwei Menschen berechnet, und diese Fahrt ist nichts für ein Mädchen. Lovis, es ist unmöglich. Wozu willst du Ruth mitnehmen? In Elektra liegt dein Geld, da kannst du von der Sorte haben, soviel du willst.«
Ruth drückte sich an Lovis.
»Lovis, verbiete ihm, so zu reden! Wie kannst du das mit anhören?«
Eric schwenkte auf dem Absatz herum und wanderte im Raum hin und her. Er sah auf das Schachbrettmuster der Bodenplatten vor seinen Füßen.
»Du setzt dein Entkommen aufs Spiel, wenn du das Mädchen mitnimmst. Lovis! Sie kann ja am Leben bleiben. Ich finde schon einen Weg, damit sie uns nicht gefährlich wird. Wir sperren sie hier ein – und bis sie herausgefunden hat, sind wir in Sicherheit. Sie kann später nachkommen. Wir lassen Geld für sie da!«
Er nahm eine Rolle Plastikscheine aus der Brusttasche und legte sie auf das Tischchen vor Ruth. Sie faßte danach und warf nach ihm. Ohne sich zu öffnen, flog das Röllchen an ihm vorbei und kollerte unter einen Stuhl. Eric bückte sich, hob es auf und steckte es wieder ein. – »Warum sagst du nichts, Lovis?« schrie das Mädchen. »Vielleicht willst du ihm noch zustimmen!«
»Schau, Mädel«, sagte er, »vielleicht hat er sogar recht. Ohne ihn komme ich hier nicht raus. Aber dich kennt doch niemand. Vielleicht... Du könntest doch... Verflucht!« brüllte er auf. »Du siehst doch, es geht nicht! Liegt dir denn nichts an meinem Leben? Nimm doch auch Rücksicht auf mich! Es gibt nun einmal keinen Weg für uns drei. Wir haben überall an den Ausgängen nur zwei Schutzanzüge liegen.«