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Ruths Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund. Lovis blickte sie erschreckt an. Der Ausdruck seiner Augen wechselte, als wollten sie etwas sagen, was das gefesselte Gesicht nicht ausdrücken konnte. Er stand auf und bückte sich zu ihr herab. Seine Hände tappten nach ihren Wangen, ihren Haaren.

»Mein Kindchen«, stammelte er. »Sei nicht traurig! Wir werden schon einen Ausweg finden. Mein Liebling, mein Schätzchen. Ich kann ja gar nicht ohne dich... Aber sei doch vernünftig...!«

Ruth duckte sich unter seinen Armen hinweg. Sie ging einige Schritte seitwärts, so daß sie zwischen den beiden Männern stand. Eric lümmelte an einer gekachelten Säule und gab sich unbeteiligt. Er hatte soviel gesprochen wie noch nie in seinem Leben, und jetzt schwieg er. Er meinte, es ging ihm darum, Lovis zu retten. Jetzt überließ er den anderen die Entscheidung darüber, ob alles so geschah, wie er es festgelegt hatte, oder ob seine jahrelange Vorarbeit sinnlos gewesen war und damit der Zweck seines ganzen Daseins. Ganz tief in seinem Innern, so tief, daß es nicht an die Oberfläche seines Bewußtseins strahlte, spürte er aber das Nahen von etwas Ungeheuerlichem, von etwas, was nach den Fundamenten seiner Persönlichkeit griff.

»Sei still«, sagte Ruth zu Lovis. »Ich werde tun, was du willst. Wenn du es wünschst, bleibe ich hier. Aber ist es wirklich notwendig, oder willst du mich nur los sein?«

»Liebling...« Lovis stand gebückt. Seine Arme pendelten.

»Es gibt einen Ausweg«, fuhr Ruth fort. »Wir können auch zu dritt flüchten. Wir haben Zeit bis Mitternacht. Inzwischen holt Eric eine Schutzmaske von einem jener Ausgänge, den wir nicht benutzen. Die Turbinenschleudern kommen für uns nicht in Betracht und auch der Schlepper nicht. Die Südspitze ist nicht weit von den Wasserspeichern entfernt. Also wird es am besten sein, die Maske von dort zu holen. Und dann sehen wir, daß wir über die Ausfahrt nach Belem das Flugzeug erreichen.« – Lovis lief auf das Mädchen zu. »Das ist der Ausweg! Daß ich nicht daran gedacht habe! Natürlich – so geht es. Warum bist du nicht draufgekommen, Eric?«

Eric sah auf die Spuren, die sein Ärmel im Staub der Tischplatte gezogen hatte. Hatte er nicht daran gedacht? Die Lösung war ganz einfach. Er kannte das Labyrinth der Fluchtwege wie kein anderer, und jede damit zusammenhängende Frage, auf die es eine Antwort gab, mußte sich ihm von selbst erschließen. Freilich, das Flugzeug war ein Zweisitzer, aber der Gepäckraum stand zur Verfügung, und Treibstoff lag genug bereit. Er hatte nicht antworten können, weil er nicht selbst gegen sich entscheiden durfte. Nicht Lovis hatte er verloren, sondern das, was Lovis für ihn war.

»Geht in Ordnung«, sagte er, »ich hole die Maske.« Aber er wußte, daß er nicht mitfliegen würde. Nicht zu dritt. Er wandte sich ab.

»Laß ihn nicht allein!« rief Ruth. »Du mußt mitgehen. Und ich komme auch mit!«

Lovis gehorchte ihr. Er setzte sich hinter Eric in Bewegung, und Ruth folgte. Du hast mich schon allein gelassen, dachte Eric, es nützt nichts, wenn du jetzt mitkommst. Er stieg die Stufen zu den Werkhallen der unterirdischen Fabrik hinauf. Er selbst hatte den Befehl ausgeschrieben, daß der Betrieb stillgelegt und von der Außenwelt abgeschnitten werden sollte, und Lovis, der jetzt schwerfällig hinter ihm herkeuchte, die Hand am Pistolenknauf, hatte ihn unterzeichnet.

Die magnetische Sperre öffnete sich vor ihm. Das Notlicht der Glimmlampen sickerte in die Hallen, ohne die Schatten wirklich aus den Winkeln vertreiben zu können. Abgründe gähnten neben den Maschinen, unter den Luftbändern, zwischen den Speichen der Räder, hinter den Preßhämmern, in den Ölkesseln. Kranhaken, Zangen, Stanzhämmer griffen aus dem Nichts, Ketten, Drähte, Leitungen, Röhren überzogen die einzelnen unabhängig voneinander im Schwarz schwebenden Gruppen von Werkzeugen und verbanden ihr seltsames Neben-, Über- und Durcheinander zu einem Rieseninsekt aus Metall, das nur auf ein Signal zu warten schien, um zu automatenhaftem Leben zu erwachen. Eric hätte diese Signale geben können. Die Spinbatterien waren noch geladen, die Benzinbehälter gefüllt, die Schmierleitungen voll Öl, die Gasflaschen unter Druck. Er hätte ein Signal geben können, einen Hebel umlegen, einen Knopf drücken, einen Schalter drehen, und Kontakte hätten sich geschlossen, Elektrizität wäre durch Metall gekrochen, Kondensatoren hätten sich entladen, Räder hätten sich gedreht, Hämmer hätten gestampft.

Eric dachte nicht daran. Er ging weiter, durchquerte eine ganze Flucht von Maschinenhallen, Büros, Lagerräumen, kroch in einen Belüftungsschacht und kam bis unter die Oberfläche. Neben einer Schalttafel stand der Kasten mit den Schutzanzügen. Er holte eine Atemmaske heraus, kehrte um. Die Schaltknöpfe ließ er unberührt. Lovis und Ruth stolperten hinter ihm drein.

Es war zehn Uhr nachts. Eric fiel der Zeitplan ein. Für jetzt hatte er Ruhe vorgeschrieben. Ruhe nach den Anstrengungen und Aufregungen des bewegten Tages. Ruhe nach einem kleinen Imbiß in der Kantine der unterirdischen Fabrik. Ruhe vor dem zweiten, letzten mühsamen Tag, der ausgeruhte Glieder und beruhigte Nerven erfordern würde. Jetzt war es gleichgültig.

Er erreichte die Bar und öffnete die Tür zu einem Schrank. In den Fächern standen Konserven – Kekse, Nüsse, Schokolade, eingelegtes Obst, Dosen mit Grapefruitsaft, mit Orangeade. Er zog eine zweite Tür auf und nahm einen elektrischen Rasierapparat, Schere, Alkohol und Watte heraus. Aus einem dritten Schrank schob er schließlich zwei Luftmatratzen, zwei Gummipolster und ein Bündel Decken. Er packte zwei davon, breitete sie über die Wandbank, zog Jacke und Schuhe aus, legte sich hin und wickelte sich ein.

»Man kann den Verband abnehmen, Lovis«, sagte er müde und stellte den Wecker seiner Armbanduhr auf eins dreißig.

Lovis trat zum Wandspiegel und hakte ihn los.

»Richtig! Hilf mir, Ruth.«

Er reichte dem Mädchen den Spiegel und trat unter eine Lampe. Zuerst rasierte er sich, und der schwarze Kinnbart, der vom Verband freigeblieben war, fiel in Strähnen herab. Dann schob er die Fingernägel unter die Plastikschicht und löste so viel, daß er mit dem Finger unter den Rand greifen konnte. Er zog, und ein Streifen löste sich, er griff wieder zu und zerrte, ein Streifen nach dem anderen kam frei, schrumpfte ein und hüpfte als unansehnliches Knäuel zu Boden.

Eric hatte sich zur Wand drehen und schlafen wollen. Aber er konnte seinen Blick nicht von Lovis’ Gesicht lösen. Ruth saß wie eine Bildsäule. Der Spiegel in ihrer Hand zitterte. Es sah aus, als ob ein wahnsinniger Kranker seine verfaulte Haut vom Kopf riß, um die Zuschauer mit dem Schauderbild zu schrecken, das dahinter zum Vorschein käme.

Der letzte Fetzen trennte sich, und Lovis starrte in den Spiegel.

An diesem Gesicht war nichts Schreckliches, aber auch nichts Starkes, Machtvolles, nichts Überlegenes, Stolzes, nichts Verächtliches, Niederschmetterndes. Dieses Gesicht war nur nichtssagend und dabei nicht einmal ekelhaft. Die Nase war zu einer Stupsnase geworden, die Wangen wölbten sich rundlich und ein wenig fett, der Mund war wulstig und voll – es sah aus, als ob die Lippen keinen Halt aneinander finden konnten und stets leicht geöffnet bleiben müßten.

Der Arzt hatte gute Arbeit geleistet. Zwar war er nun tot, aber sein Werk war lebendig. Und gerade durch die Güte seiner Arbeit hatte er sich an seinen Peinigern gerächt. Niemand konnte Lovis erkennen. Niemand konnte eine Spur des Eingriffs entdecken. Es gab keine Narben und keine Hautverfärbungen. Es gab keinen Lovis mehr, weder für Eric noch für Ruth. Sie erkannten es beide. Ihre Blicke trafen sich. Beide dachten dasselbe, und sie verstanden einander. Beide sahen sich so, wie man sich sieht, wenn einer den anderen zum erstenmal sieht und ihn zu erkennen sucht.

»Was glotzt ihr da!« schrie Lovis und schlug nach dem Spiegel in Ruths Hand, aber sie zog ihn vor seiner Faust zurück und legte ihn auf die Theke.