»Nach den geologischen Anzeichen, der Wanderung des Pols und so weiter, müssen sie noch erheblich älter sein«, meinte Vries.
Erst als Ebb allmählich zu verzweifeln begann, betrat Koute wieder einen Gang und führte sie in eine langgestreckte Halle. Es schien eine Art Labor zu sein, rechts und links an der Wand waren Kojen abgeteilt, die offenbar als Arbeitsplätze anzusehen waren – es gab Sitzgelegenheiten und Tische, Fächer und Regale, Instrumente, deren Zweck teilweise sogar zu erraten war – z. B. eine Vorrichtung, um dünne Schnitte auszuführen, eine Apparatur, die einer Heizplatte ähnlich sah, Mikroskope... Ebb zog eines zu sich heran und versuchte, so gut das trotz seines Helmes ging, hindurchzusehen. Mit einem enttäuschten Laut schob er es beiseite.
»Sie hatten andere Augen als wir«, erklärte Vries.
»Wo sind die Präparate?« fragte Ebb.
Koute trat an ein Regal und öffnete die Flügeltür. »Das waren die einzigen Dinge organischen Ursprungs, die wir gefunden haben.«
In vier Fächern standen je fünf Gefäße. Sie waren mit einer rotbraunen Flüssigkeit gefüllt, darin schwammen weißgelbe Massen, wulstreiche kappenartige Gebilde, die plötzlich, von irgendeinem unmerklichen Stoß angeregt, zu gespenstischem Leben erwachten, schaukelten, pulsierten, aufstiegen und absanken.
»Sind sie schon chemisch analysiert?« fragte Vries.
»Sie enthalten vor allem Kohlenstoff und Wasserstoff, weiter Sauerstoff, Stickstoff, etwas Phosphor und geringe Mengen anderer Elemente.«
»Wir sehen uns hier ein wenig um«, entschied Vries. »Wie lange haben wir noch Zeit?«
Koute stellte auf Chronometerdurchsage um: »... dreißig, siebzehn einunddreißig, siebzehn zweiunddreißig...«
»Um zweiundzwanzig Uhr starten wir«, sagte Koute. »Wir haben ergiebige Lager von Erdalkaliverbindungen gefunden, und Wasser ist hier überhaupt kein Problem. Die Ladekommandos sind bald fertig. Ich gehe inzwischen zurück.«
»Was hältst du davon?« fragte Ebb.
»Vielleicht sind es Meerestiere – Schwämme oder Quallen.« Vries hatte ein Gefäß aus dem Fach gehoben und betrachtete das schwankende, lockere Gebilde.
»Oder sollte es das herauspräparierte Organ eines jener Wesen sein, die diese Häuser bauten?« bohrte Ebb weiter.
Das Gefäß war mit einem Deckel aus durchsichtigem, biegsamem Material verschlossen, ein Metallring preßte ihn luftdicht an den Rand der weiten, quadratischen Öffnung. Vries löste eine Spange und hob ihn vorsichtig auf. Seiner Brusttasche entnahm er einen flachen Löffel und eine Pinzette, tauchte sie langsam in die Flüssigkeit bis sie die Präparate berührte und tastete über die Oberfläche hinweg. Manchmal übte er einen leisen Druck aus, um die Konsistenz zu prüfen, war aber stets auf der Hut, die nachgiebige Masse nicht zu beschädigen.
Plötzlich stutzte er. Mit der Pinzette setzte er an einer Stelle an, mit dem Löffel an der anderen, er kratzte und zerrte ein wenig... Da klaffte eine schmale Öffnung mit glatten Rändern, ein haardünner, schnurgerader Spalt. – »Eine Mundöffnung?« fragte Ebb.
»Nein«, antwortete Vries, »nichts Natürliches... ein Schnitt... von einem scharfen Instrument...«
»Vielleicht wurde das Wesen durch einen Eingriff getötet?«
Vries mußte Ebbs Vermutung erst verdauen. Er blickte kurz auf und senkte dann den Kopf wieder zu seinen Händen, zu dem kubischen Gefäß, zu den fremdartigen, zitternden Dingen, die aussahen, als atmeten sie.
»Getötet? Vielleicht. Vielleicht auch geheilt. Wer weiß.«
»Wir werden das zerschnittene Gewebe vereinigen müssen – wenn wir reaktivieren wollen.«
»Ja. Gewiß«, murmelte Vries. Noch immer befand sich sein helmbewehrter Kopf dicht vor dem Behälter, und es schienen die kreisförmigen Sichtscheiben der Maske selbst zu sein, die auf die schwammige Masse hinunterstarrten.
»Es erinnert mich an etwas, was ich einmal auf Ramses sieben sah«, ertönten dann die Mikrofone an Ebbs Ohren. »Ich glaube, wir haben Glück, und sie stammen wirklich von den intelligenten Bewohnern dieser Welt – es sind präparierte Gehirne.«
Der Kader schwang sich hinaus in den Raum, als sei er ein einheitlicher, fester Körper. Die Stabilisierungsfelder hielten jeden Ring in festem Abstand zu den anderen, alle kreisten langsam, um in den Wohn- und Arbeitsräumen die gewohnte Schwerkraft vorzutäuschen, alle waren der Sonne zugewandt, bis diese in den Schwarm der hunderttausend Lichtpünktchen zurücksank – ein Stern unter Sternen –, und selbst dann noch behielten sie ihre Richtung bei, bis eine andere Sonne zu einer feurigen Scheibe anwuchs, bis sie in den Gürtel der hochfrequenten Ausstrahlungen eindrangen, und dann drehten sie sich wie wiegende Kreisel herum und stellten sich der neuen Energiequelle entgegen. Aber das dauerte oft Wochen, oft auch Monate und Jahre.
Vries hatte inzwischen die Unterlagen der anderen wissenschaftlichen Abteilungen bekommen, aber sie gaben ihm nur wenig Aufschluß. Leider war es noch nicht gelungen, die Zeichen zu enträtseln, die die winzigen Filmblättchen enthielten. Auch die flüchtige Untersuchung der naturwissenschaftlichen Kommandos hatte nichts für ihn Wichtiges ergeben. In der verfallenen Stadt gab es kein Anzeichen von Leben. Der grüne Kontinent dagegen wies üppigen Pflanzenwuchs auf, auch eine ganze Sammlung von Tieren wurde zum Studium mitgenommen, aber die wenigen Säugetierarten waren primitiv, und von Insekten gab es nur kleine, mit festen Panzern versehene Formen.
Vries setzte alle Hoffnung in die Gehirnpräparate. Er hatte drei mitgebracht, eines verwendete er zur Analyse, zwei bewahrte er für einen Reaktivierungsversuch auf.
Die mikroskopische Analyse hatte ergeben, daß die eigenartigen Schnitte viele feinste Stränge aus Eiweißsubstanzen trennten. Ebb hatte sie in mühevoller Kleinarbeit alle wieder miteinander verbunden.
Nachdem sie alles getan hatten, um einen Erfolg wahrscheinlich zu machen, suchte Vries im Befehlsstand seines Schiffs darum an, die elektronische Zentralanlage verwenden zu dürfen. Das wurde ihm gewährt.
Vries hatte seine Vorbereitungen in aller Stille getroffen, und doch hatte sich seine Absicht herumgesprochen. Vor der Tür seines Labors drängten sich die Neugierigen – sie störten ihn wenig, denn er brauchte sie nicht hereinzulassen; jedoch konnte er nichts dagegen tun, als der Kommodore und der Sicherheitsoffizier an dem Experiment teilzunehmen wünschten.
»Bevor du beginnst –«, sagte Orch, der Chef der Sicherungs- und Kampftruppen, »besteht keine Gefahr für unsere Gemeinschaft?«
Rety, der Befehlshaber des Schiffes, nickte. »Eine sehr berechtigte Frage!«
Vries stand vor dem Resonanzstrahler. Er hantierte nervös an der Koordinationseinrichtung des Abtasters. Er ärgerte sich über diese unerwünschte Verzögerung.
»Die Städtekultur, die wir vorgefunden haben, besaß kein hohes Niveau. Sie war ziemlich am Anfang ihrer Entwicklung in einem völlig durchorganisierten Stadium steckengeblieben. Eine solche Kultur bringt keine hohen Intelligenzen hervor. Und auch die naturwissenschaftlich-technischen Kenntnisse dieser Leute waren gering. Was sollte also für eine Gefahr bestehen?«
»Du erinnerst dich doch an den Kurzschluß im Crabnebel?« fragte Orch mit einem hämischen Unterton.
Das mußte ja kommen, dachte Vries wütend.
Laut sagte er: »Der Kurzschluß im Elektronenhirn kam nicht durch hohe Intelligenz, sondern durch Inferiorität zustande. Wir erwischten ein wahnsinniges Individuum. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich dieses Pech wiederholt, ist unvorstellbar gering.«
Orch wollte widersprechen, doch Rety winkte ab.
»Wozu dient das Experiment, wenn wir weder kulturelle noch technische Information erwarten dürfen?«