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Czerny räusperte sich. »Ich bin dagegen. Frost hat nicht geschossen, weil er gehorsam war, sondern weil er wußte, daß das Kind Gefahr für ihn bedeutete. Der Roboter hat es nicht gemeldet – die Impulse, die er empfing, kamen von viel weiter her. Folglich war es kein Wesen aus Fleisch und Blut. Folglich schoß er.«

»Ganz richtig«, bestätigte Bell. »Ein spielendes Kind auf einem fremden Planeten inmitten eines unheimlichen wuchernden Gewächses – da lag die Vermutung nahe, daß es sich um ein Phantom, um Hypnose oder um eine Spiegelung mit technischen Mitteln handelte. Frost wußte genau, daß das Gesicht mit dem Stupsnäschen und den großen Augen ein psychologisches Leitbild ist, das reflektorisch die Symptome des Beschützerdranges auslöst. Darum erwähnte er auch das Püppchen und den Teddybären, Spielzeuge, die die Gefühle der Mütterlichkeit auslösen, weil sie diesen Typus verkörpern. Ihr erinnert euch an das Verhör. Ich bin deshalb dafür, diesen Punkt mit Null zu bewerten. Wer stimmt zu?«

Czerny hob sofort die Hand, fast ebenso schnell Graudenz. Janet hatte keine Stimme im Tribunal und verhielt sich ruhig.

Farmer schlug ein Buch auf und trug etwas ein. »Drei zu eins. Also Bewertung Null. Was war der nächste Punkt?«

»Der Entschluß, im Korallenfeld einen Fluchtversuch zu machen«, antwortete Janet.

»Hier«, bemerkte Bell, »hat der Patient meiner Meinung nach richtig gehandelt. Durch seine Flucht rettete er sich und sein Wissen. Durch seine Meldung konnte er seine Beobachtungen schnellstens weitergeben. Und dadurch wieder konnte sich die Regierung rechtzeitig zum Eingreifen entschließen. Es scheint also...« Bell stutzte. Es war, als habe jemand ein dunkles Tuch über sie geworfen – die Neonröhren waren plötzlich erloschen. Im schwach einfallenden Tageslicht waren sie nur Schatten.

Farmer tastete nach dem Signalknopf, der vor ihm an der schmalen Seitenkante in die Tischplatte eingesenkt war. Die Türfläche schob sich zur Seite, und ein Mann des Personals erschien.

»Sorg dafür, daß wir wieder Licht kriegen!« befahl Farmer.

Der Weißgekleidete nickte und zog sich zurück.

»Es ist nicht zu finster, um weiter zu verhandeln«, bemerkte Farmer. »Bitte, Bell, du hast gerade gesprochen.«

Bell war ein wenig aus der Fassung geraten. Er blinzelte unruhig. »Ich sage... ich erklärte, daß Frost der Regierung durch sein Verhalten einen Dienst erwiesen hat. Sie konnte rechtzeitig eingreifen.«

»Unsinn«, sagte Czerny kalt. »Er hatte den Befehl, sich selbst zu vernichten. Befehl ist Befehl. Er hat ihm nicht gehorcht. Also ein Minuspunkt.« – Farmer stützte das Kinn in die Hand. Es war unbeabsichtigt, aber es war dieselbe Pose, die er stets einnahm, wenn er fotografiert wurde, und wie auf ein geheimes Zeichen erstrahlten die Neonröhren wieder.

»Du hast recht, Czerny. Er hätte gehorchen müssen.« Farmer wandte sich an Bell. »Hier geht es um die Alternative Lebenswille oder Gehorsam. Bei einem normalen Staatsbürger muß der Drang zu gehorchen stärker sein als der Wunsch, am Leben zu bleiben. Ob durch seinen Übergriff schließlich ein günstiger oder ein ungünstiger Zustand entsteht, ist dabei gleichgültig. Der Angeklagte verdient einen Minuspunkt. Ist jemand dagegen?«

Czerny schüttelte den Kopf.

Bell sagte: »Nein.«

Graudenz, der die Entscheidung seines Vorgesetzten abgewartet hatte, beeilte sich hastig, ebenfalls zu verneinen. Farmer schrieb etwas in sein Buch.

»Wir kommen zu Punkt drei. Es ist ein Entschluß des Angeklagten, der nicht ganz einfach zu verstehen ist. Bitte, Trombe, lies die Zusammenfassung vor!«

Alle Köpfe wandten sich dem Mädchen zu. Wieder überkam Janet eine flüchtige Unsicherheit. Sie blätterte suchend in ihrem Block. Ihre Haare sind blond und ihre Augen grün, dachte Bell, sollte das ein Zufall sein?

In diesem Moment stürzte ein weißgekleideter Pfleger herein und rief: »Eric Frost ist entflohen!«

Erics Zustand besserte sich rasch. Seine Muskeln lockerten sich, die Wellen, die jeder Herzschlag durch seinen Körper getrieben hatte, ebbten ab, das Gefühl der Übelkeit hörte auf. Er konnte wieder mühelos denken. Noch hatte er nicht alle Bausteine seines Traumerlebnisses aneinandergekittet, aber das, was ihm die Fragmente verrieten, genügte. Er war verloren, oder zumindest das in ihm, was seine Persönlichkeit bildete. Ein kleiner Schnitt, der zwei Gehirnteile trennt – und er würde den Rest seines Lebens als stumpfsinniges, willenloses Wrack dahinvegetieren.

Er hatte nie viel über sich nachgedacht, besonders nicht darüber, ob er so war wie die anderen oder nicht. Von selbst wäre er nie daraufgekommen, daß er ein Entarteter war, einer von jenen, der den Deliusschen Normen nicht entsprach, ein Mensch mit einem kranken Charakter. Er hätte nie geahnt, daß er zur Auflehnung gegen das Gesetz fähig war.

Und doch hatte er es gebrochen. Er war ein Verbrecher. Plötzlich setzte sich irgend etwas Unfaßbares aus seinen Gedankenerlebnissen in die Wirklichkeit fort – ein absurdes Gefühl, nun freier zu sein als sonst, während er doch tatsächlich noch nie so sehr Gefangener war wie eben jetzt. Aber vielleicht war es gar nicht so absurd – wenn man Freiheit nicht nur auf das körperliche Eingeschlossensein bezog, sondern auf den Spielraum der Entschlüsse. Und dieser war noch nie so unbeschränkt gewesen wie in diesen Minuten. Er konnte etwas tun – zwar konnte er nicht viel tun, aber er konnte mehr tun als je zuvor –, mehr als die Ordnungsregeln zuließen. Er durfte lügen, betrügen, stehlen, rauben, sogar morden, und nie konnte ihm mehr geschehen als das, was ihm ohnehin bevorstand.

Er gab sich einen Ruck, der die anerzogene und gewohnte Trägheit abschleuderte, und sah sich mit wachen Sinnen um. Da war zunächst das Fenster; er trat heran und blickte hinaus. Der Grund der Straßenschlucht lag zweihundert Meter unter ihm, die Laufbänder glitten in der Mitte schnell, am Rand langsam. Die Menschen auf ihnen sahen wie hingespritzte Punkte aus, und wenn sich einer aus den gesprenkelten Flecken löste, dann schien ihn die Hauswand anzuziehen, er scherte in einer Parabel aus dem Verband der anderen und wurde von einer Türöffnung eingesogen.

Dort unten lag die Freiheit – eine sehr fragwürdige Freiheit zwar, aber immerhin im Moment der Inbegriff alles dessen, was für Eric Freiheit bedeutete. Aber die Häuserwand war glatt und das Kunstglas der Scheiben härter als Stahl.

Eric blickte weiter um sich... Der Luftschacht war viel zu schmal für einen erwachsenen Menschen – da waren noch die Türen. Er versuchte, sie aufzuschieben... Natürlich waren sie verschlossen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich eine List zurechtzulegen. Durch die eine Tür war er aus dem Korridor hereingekommen, was sich hinter der anderen verbarg, wußte er nicht. Er preßte sein Ohr daran... Eine dunkle Stimme murmelte, eine helle krähte, eine dritte, scharfe, fiel ein...

Nur diese konnte er verstehen: »... die Saboteure, die Asozialen, die Gewaltverbrecher...«

Dort drinnen fand eine Verhandlung statt, vielleicht ging es um ihn. Aber das war zur Zeit gleichgültig, bedeutsam war nur, daß sich drüben mehrere Menschen befanden und daß dieser Ausschlupf versperrt war. Der einzige Fluchtweg führte über den Korridor.

Eric trat mit dem Absatz gegen den Sitz seiner Bank, und zwar von der Seite her, dorthin, wo die Polsterung in den Metallrahmen eingelassen war. Nach einigem Bemühen begann sich ein Riß zu öffnen; Eric zwängte die Finger über die Plastikbespannung und riß einen geldstückgroßen Fetzen heraus.

Dann schob er eine Bank unter die Neonröhren und stellte sich auf den Schaumgummisitz; so war er isoliert. Er klemmte eine Röhre los, griff in die Fassung und zerrte daran. Sie lockerte sich so weit, daß er ein Ende des Drahtes erfassen konnte, der vom Zündtransformator kam. Er zog ihn ein Stück heraus und wickelte von der Spule etwa einen Meter Draht ab. Damit überbrückte er die Elektroden der Lampe und steckte sie wieder in die Fassung. Es blaffte leise, und auch die beiden anderen Lampen verlöschten. Eric rückte die Bank an ihren alten Platz zurück und setzte sich neben die Tür.