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»Aber du kannst doch nicht tun, als wäre nichts geschehen? Sie ist eine ständige Gefahr für euch. Vielleicht verrät sie Lovis bei der nächsten Gelegenheit wieder!«

»Lovis verdient es nicht besser.«

»Das kann stimmen. Lovis hat sich geändert, er ist nicht mehr der, der er war. Aber es geht doch auch um dich! Du mußt etwas unternehmen!«

»Ich werde niemals etwas gegen Ruth tun.«

Die Stimme Bells ertönte aus dem Lautsprecher: »Das genügt. Graudenz, bitte neutralisieren.«

Klappern und Rascheln, Quietschen und Murmeln klangen auf.

»Trombe, was ist los?« unterbrach Farmer.

Janet zuckte zusammen. Sie drückte die Taste, und ein Schnappen schnitt die Geräusche ab.

»Nun!« sagte Bell triumphierend.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Farmer. »Du hast selbst gesagt, daß die konstruierte Persönlichkeit des Experiments nur einen einzigen Halt hat, den Freund. Nachdem dieser nun zu einer Enttäuschung geworden ist – was liegt näher, als daß sich der Prüfling an die einzige Person klammert, die in diesem Erlebnis noch auftritt. Das scheint mir den Rahmen des Normalen keineswegs zu sprengen. Ich bin für einen Pluspunkt.«

»Das kannst du als Jurist gar nicht beurteilen«, schrie Bell. »Die Reaktion Erics ist völlig abwegig. Er liebt diese Ruth so stark, daß er alle früheren Bindungen glatt vergißt.«

»Bell stimmt also für minus. Czerny?«

»Der Kerl ist ein krankhafter Verbrecher. Minus.«

»Graudenz?«

Der junge Mediziner schreckte auf und blickte unruhig von einem zum anderen. Sein Blick blieb an Bell hängen.

»Minus. Ja... doch, minus.«

»Ich bin überstimmt«, stellte Farmer unbewegt fest. »Also zum letzten Punkt. Lovis, Ruth und Eric haben die Flucht vorbereitet. Lovis eröffnet Eric, daß er zurückbleiben muß. Eric entschließt sich, Lovis trotz allem zu retten und das Mädchen zurückzulassen. Er sieht zwar keine große Chance zu entkommen, da er die Flugzeuge der Gegner am Himmel bemerkt hat, für den Fall aber, daß die Flucht dennoch gelingen sollte, hat er eine originelle Idee, sich an Lovis zu rächen.

Auch hier sehe ich in Erics Verhalten nichts Unrechtes. Natürlich sollte er Lovis den Vertretern der regulären Regierung übergeben, aber es ist doch die Erlebnissuggestion selbst, die ihm jedes soziale Gefühl abspricht. Also kann er für diese Unterlassungssünde nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Und was Ruth betrifft: Er tut das, was ihrer Rettung dient, und keineswegs das, was man von jemand erwartet, der jemand liebt – soweit man den alten Liebesromanen trauen darf –, nämlich zu versuchen, mit ihm zu fliehen. Ich bin also auch hier durchaus für einen Pluspunkt.«

Bell sprang erregt auf. »Das ist eine ungeheure Verkennung der Tatsachen! Im Verhör hat Eric doch zugegeben, daß er so handelt, weil er Ruth liebt. Da gibt es gar keinen Zweifel!«

Janet hatte den Finger schon auf der Drucktaste des Bandgerätes liegen. Sie wußte die Worte noch auswendig, die Eric zuletzt gesprochen hatte: »... weil ich Ruth liebe! Weil ich sie liebe.« Aber diesmal wünschte niemand, das Band abzuhören.

»Gewiß, er liebt Ruth«, sagte Farmer. »Aber wo ist hier etwas vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Auslese? Wo gibt es hier Aggressivität, Unduldsamkeit, Reizbarkeit? Ich glaube, so hast du es ausgedrückt. Es ist doch klar, daß hier nicht das vorliegt, was du unter Liebe verstehst, sondern jene Brüderlichkeit, die stets für den anderen das Beste will. Und die auch ein Fundament unseres Staates ist.«

Von Czernys Platz klang ein Ächzen. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Worte kamen zuerst überraschend leise, gingen aber später in Gebrüll über: »Jetzt wird es mir aber zu bunt. Muß ich mir das weiter anhören, wie hier Lobestiraden auf einen Verbrecher gesungen werden? Ist das eine Kommissionierung oder eine Kabarettvorstellung? Dieser Mann«, er stieß die Faust in die Richtung nach Farmer, »ist ja selbst nicht normal! Wie könnte er sonst einen Entarteten zu decken versuchen! Ich beantrage, daß man ihn unter das Gedankennetz legt!«

Plötzlich war es unheimlich still. Czernys Gesicht war eine Maske, nichts regte sich darin. Bell wischte mit einem Taschentuch über sein Gesicht. Graudenz biß heftig in seinen Kugelschreiber. Janet duckte sich wie unter einem Schlag. Farmers Notizbuch fiel polternd zu Boden.

Über dem Raum lastete wieder das Schweigen. Es schien noch immer stiller und stiller zu werden, und dann trat ein leises Raunen aus den Winkeln heraus, Geräusche wurden laut, die sonst unterdrückt und unbemerkt blieben, aber doch unablässig kreuz und quer durch das Gebäude liefen, von einem Ende bis zum anderen und wieder zurück, das Hämmern der Relais, das Tremolieren der Rechenautomaten, das Rumoren der Aufzüge, das Summen der durchströmenden Luft, das Rollen des Verkehrs tief unter den Fundamenten der Stadt, und jetzt kam ein Stampfen näher, dumpf, eilig, immer lauter, rasselnd fuhr die Schiebetür beiseite, und ein Pfleger stand in ihrem Rahmen:

»Eric Frost ist wieder da.«

Es befand sich keiner im Saal, der diesen Mann nicht am liebsten umarmt hätte, sogar Czerny selbst. Er hatte den Bann gebrochen, den die ungeheuerliche Anschuldigung über sie geworfen hatte, und jetzt wandten sie sich dankbar vom Unangenehmen ab, sie mochten nicht mehr daran denken, sie wischten es aus ihren Hirnen wie Kreidestaub von der Tafel.

Bell lief auf den Weißgekleideten zu: »Habt ihr ihn?«

»Ja... nein...« Der Mann stammelte.

»Was soll das heißen? Nein? Ist er...« Eine unangenehme Idee kam in ihm auf. »Ist er... tot?«

»Nein, er lebt.«

»Na, was ist denn dann passiert? Wo ist er?«

»Wieder im Zimmer sechshundertfünf – im Wartezimmer.«

»Und wo habt ihr ihn gefunden?«

»Auch im Wartezimmer. Er muß von selbst zurückgekehrt sein. Er saß dort...«

»Seit wann?«

»Das weiß ich nicht, wir haben dort nicht gesucht...«

»Stümper!«

Er drehte sich um und lief zu einer Tür in der gegenüberliegenden Wand. Er drückte einige bezifferte Tasten, und die Tür glitt aus seinem Gesichtsfeld. Die Kollegen drängten sich hinter ihm.

Sie starrten in das Wartezimmer. Eric Frost blickte ihnen entgegen. Er lehnte in einer der schwarzgepolsterten Bänke und hielt die Hände vor der Brust verschränkt.

Bell riß die Schiebetür zu. »Diese Idioten!«

»Drei Mann mit Schockpistolen vor die Außentür!« befahl Czerny dem Pfleger, der, erstaunt und verlegen, noch immer in der Tür zum Vorraum stand. »Vorwärts, du hast doch gehört!« drängte Bell.

»Ich glaube, wir schließen die Sitzung ab«, schlug Farmer vor. »Bitte setzt euch.«

Wieder umringten sie den Tisch und beschäftigten sich mit ihren Händen, ihren Schreibwerkzeugen, ihren Notizblöcken. Sie fuhren unruhig auf Ihren breiten Stühlen hin und her und vermieden es, sich gegenseitig ins Gesicht zu schauen.

»Hat noch jemand eine Bemerkung zum letzten Punkt?« fragte Farmer auf die Seiten seines Buches hinab. »Niemand? Dann bitte ich um die Bewertung. Bell?«

»Klares Minus.«

»Czerny?«

»Minus.«

»Graudenz?«

»Minus... jawohl, minus.«

»Demnach ein einstimmiger Minuspunkt.«

Farmer kritzelte den kurzen nichtssagenden Querstrich hin. »Fünf Bewertungen, eine Null, vier Minus. Das sind vier Schlechtpunkte. Das Urteil steht fest. Nun noch die Begründung. Bitte. Bell.«

Bell versuchte, seinen rundlichen Körper aufzurichten. »Die Entscheidungen des ersten Prüferlebnisses haben erwiesen, daß das Sozialempfinden des Patienten nicht den Normen entspricht. Dazu kommt das Ergebnis der zweiten Prüfung: Sein Liebestrieb ist überentwickelt. Er ist daher nach den Deliusschen Richtlinien aus zwei Gründen als Anomaler identifiziert.«

»Hat es Sinn, es mit Schocktherapie zu versuchen?« fragte Farmer.

»Nein. Seine Fehler sind keine durch äußere Umstände hervorgerufenen Neurosen, die man rückbilden könnte. Es sind Krankheiten des Charakters, Mißbildungen im Gehirn. Daran ändert der Schock nichts. Hier hilft nur die Lobotomie.«