»Das ist ein schwerwiegender Entschluß, meine Herren.« Farmer kroch unter der Last der Verantwortung in sich zusammen. Er verlor sichtlich an Überlegenheit und Eleganz, aber er focht das durch, was er sich schuldig zu sein glaubte.
»Es wäre erst der sechste Fall von Lobotomie in diesem Jahr. Lobotomie ist etwas Endgültiges. Ich glaube nicht, daß man sie als ein Heilungsverfahren bezeichnen kann. Sie ist ein Mord an der Persönlichkeit. Sie ist –«
Bells Arm schoß empor. Seine Erregung ließ Farmer jäh verstummen. »Da muß ich schärfstens protestieren! Wir Mediziner sind schließlich keine Zauberkünstler. Wir können Krankheiten heilen, Infektionen kurieren, Wunden verschließen, Intoxikationen neutralisieren, Neurosen abkapseln. Alles das sind Abweichungen vom Phänotyp des Menschen, der Körper wehrt sich dagegen, und wir unterstützen die natürliche Regenerationstendenz. Bei angeborenen charakterlichen Mißbildungen infolge von Mutationen gibt es keine natürliche Rückführung zum Ursprünglichen, weil schon das Ursprüngliche krankhaft ist. Was also bleibt uns zu tun übrig? Wie Czerny schon sagte: Früher hat man solche Individuen eingesperrt oder getötet. Seit wir aber nicht mehr strafen, sondern zu heilen versuchen, wenden wir die Lobotomie an – und wir haben damit die besten Erfolge erzielt. Die Patienten, die zuvor Sklaven ihrer geistigen Mängel waren, werden von allen Leiden befreit.«
»Aber wäre es nicht denkbar, daß die Medizin später neue Mittel und Wege erschließt? Es sind doch stets nur quantitative Mängel – wäre es nicht besser, Anlagen auf ihr normales Maß zu bringen, als sie zu zerstören?«
»Wie stellst du dir das vor? Das sind Utopien! Ein Gehirn ist doch kein Radioapparat, in dem man mit dem Schraubenzieher faßt, um eine Einstellung zu verändern. Vielleicht kommt es später zu einer Gehirn- und Rückenmarkmikrochirurgie, die so etwas verwirklicht. Aber was hat das mit unserem Patienten zu tun? Er ist ein Krankheitsherd in unserem gesunden Volkskörper – ein Krankheitsherd, den wir nicht wuchern lassen dürfen, sondern behandeln müssen.« – »Gut, gut!« Farmer klappte sein Buch zu. »Hat noch jemand eine Bemerkung?«
»Doch... ja, ich möchte noch etwas hinzufügen.« Niemand hatte auf Graudenz geachtet, er war eine Nebenfigur in diesem Spiel, und jetzt drehten sich alle zu ihm herum. »Mir ist noch ein Punkt aufgefallen, in dem der Patient... Er scheint... Nun, seine Intelligenz ist auffallend hoch. Ich glaube, er dürfte... auch seine Intelligenz dürfte anomal sein –«
»Was hat das mit unserem Problem zu tun?« unterbrach Czerny rücksichtslos.
»Sehr viel, Kollege«, sagte Bell belehrend und rutschte mit seinem Stuhl ein Stück zurück, »sehr viel. Es rundet den klinischen Befund ab. Wir haben den hohen Intelligenzquotienten des Patienten schon bei der Routineuntersuchung festgestellt. Aus diesem Grund entschlossen wir uns überhaupt erst zu der Erlebnisprüfung. Das gemeinsame Auftreten von unterentwickeltem Sozialgefühl, übernormalem Triebleben und hoher Intellligenz ist typisch für diesen Kranken.«
»Hohe Intelligenz gilt aber nicht als Entartung im Sinne des Gesetzes«, warf Farmer ein. »Dagegen haben wir keine Maßnahmen vorgesehen. Also lassen wir das!«
»Gerade hier aber liegt ein reformbedürftiger Punkt, und nicht bei der Auswahl der Erlebnissituation, wie du meinst, Farmer. Wir sollten auch gegen Intelligenz einschreiten, die höher ist als die von Delius für den Normaltyp zugelassene. Auch sie ist eine krankhafte Abnormität. Ein auch für den Laien offenkundiger Beweis dafür ist eben dieses auch hier wieder beobachtete gemeinsame Vorkommen mit anderen charakterlichen Entartungserscheinungen. Ich erwähne nur einige überintelligente Dichter der klassischen Periode, bei denen das sehr deutlich zum Ausdruck kommt: Villon, Schiller, Nietzsche...«
»Lauter Aufwiegler und Revolutionäre!« murmelte Czerny.
»Lassen wir doch jetzt grundsätzliche Erwägungen beiseite«, forderte Farmer wieder. »Du kannst das beim nächsten Konzil vorbringen, und auch ich werde meine Zweifel an der Stichhaltigkeit von Urteilen anmelden, die an irrealen Phantasiesituationen gewonnen wurden. Ich glaube, wir sind zu einer guten Übersicht gekommen. Bevor ich schließe, möchte ich noch auf den schwerwiegenden und in dieser Form ungewöhnlichen Antrag Czernys zurückkommen, mich einer Erlebnisprüfung zu unterziehen. Ich erinnere daran, daß ich wie jedes Mitglied der Kommission eingehende Sondertests bestanden habe. So frage ich also den Kollegen Czerny, ob er auf seinem Antrag besteht.«
»Bestätigst du unser Urteil über Eric Frost?« fragte Czerny zurück. – Farmer öffnete mehrmals den Mund und schloß ihn wieder.
Schließlich sagte er: »Ich bestätige es. Und zwar, weil ich der Überzeugung bin, daß es gerecht ist.«
Er zog ein Formular aus seiner Mappe und füllte es aus. »Ich bitte zu unterschreiben.«
»Ich ziehe meinen Antrag zurück«, sagte Czerny.
Das Papier ging im Kreis herum und landete wieder bei Farmer. Er setzte seinen Namenszug darunter und steckte das Schriftstück wieder in seine Mappe. Dann drückte er auf einen Knopf am Rande der Tischplatte. Ein Pfleger erschien an der Tür.
»Eric Frost ist sofort in Haft zu nehmen. Alles vorbereiten zur Lobotomie.«
5
Schwarze Schemen, sternenlose Nacht
Wie ein Verband lag die Operationsmaske vor Bells leutseligem Kugelgesicht, und es war, als verschwände mit dem Mund auch das Lächeln und mit dem Lächeln das Leben daraus. Maskenhafte Starrheit breitete sich langsam über den ganzen Körper, der pralle Hals drehte sich nicht mehr, die Geschäftigkeit der gestikulierenden Hände war erstorben, die wachsgelben, mattdurchsichtigen, fettigglänzenden Handschuhe schienen leer herunterzuhängen, die kurzen, eiligen Beine standen säulenartig auf der Gummimatte. Auch der Körper hatte jede Form verloren – plump und schwer wurde er, wie ein locker gefüllter, mit einem Ruck auf die Erde gesetzter Mehlsack. Nur die Augen lebten in der Vermummung, und sie schwankten und kreisten tierhaft unstet in den großen Kreisen der Ausschnitte.
Der da stand, war ein anderer, ein Fremder, ein Erbarmungsloser, einer, der bereit war, Dinge zu tun, die außerhalb des menschlichen Begreifens lagen. Janet erschrak jedesmal angesichts dieser Verwandlung. Oft, wenn sie an Bell, ihren Vorgesetzten, dachte, schob sich diese Gestalt vor den lächelnden Arzt. Obwohl er ihr stets wohlwollend entgegenkam, faßte sie keine Sympathie zu ihm – er war ihr gleichgültig und manchmal widerwärtig. Diesmal aber haßte sie ihn.
Bell gab ein stummes Zeichen, und Graudenz richtete den Oberkörper Eric Frosts etwas höher im Stuhl auf. Er trat dazu auf einen Fußhebel und betätigte so ein Pumpsystem, das jede Veränderung in den Positionen des Stuhls zwar langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt vornahm. Auch Erics Körper war regungslos, bis auf die Augen, aber es war eine andere Regungslosigkeit als die Bells. Seine Armgelenke und seine Ellbogen waren durch Riemen an die Armlehnen geschnallt, seine Knöchel und seine Knie in gleicher Weise an ein abgestütztes, schmal auslaufendes Fußbrett gebunden.
Gebogene, schaumgummiüberzogene Stahlstücke drückten seine Schultern und sein Becken an die Unterlage – es sah aus, als griffen von hinten klobige Finger nach ihm, ein Gumminetz spannte sich über Brust, Magen und Bauch und hielt ihn mit klebriger Zähigkeit fest. Sein Kopf war mit mehreren gummigepolsterten Schrauben in eine Stütze geklemmt. Doch trotz dieser Fesseln wirkte Erics Körper ungemein lebendig – lebendig wie das Herz im durchscheinenden Körper einer noch nicht ausgeschlüpften Amphibie.
Graudenz hob nun etwas aus einer Halterung, das aussah wie das Kopfstück einer Brause. Es war durch einen Schlauch mit einem auf Gummirädern fahrbaren Kästchen verbunden. Graudenz drehte an einem Schalter und beobachtete einen Zeiger, der nervös über die Skala zuckte. Dann drückte er den Ansatz auf Erics kahlgeschorenen und mit roten Fettkreidestrichen überzogenen Schädel. Ein kräftiges Zischen erscholl, kalter Dampf strahlte unter den Rädern hervor.