Janet stand neben dem Präparateschrank. Sie drehte die Verschlußschraube einer Gasflasche auf, das leise Summen ging in Zischen der verdunstenden Flüssigkeit aus der Lokalanästhesiemaschine unter. Unauffällig wie ein Schatten strich Janet die Wand entlang, bis sie an der entgegengesetzten Seite des Operationsraumes angekommen war.
Janet beobachtete die drei weißvermummten Männer, die wie die Henker eines Femegerichts anmuteten, die flatternden Züge Erics, die schneeige Lichtflut auf den Fäden der zerstiebenden Dampfwolke. Das Tablett mit den Reihen chromblitzender Messer, Sägen, Meißel, Hämmer, Schaber, Zangen, Klemmen klirrte leise. Watte quoll wie Sahne aus einem Porzellangefäß.
Zuerst wankte Bell. Dann zuckte er langsam in sich zusammen und blieb in kauernder Lage zu Erics Füßen liegen. Graudenz begann mit Kopf und Armen zu rudern, der Düsennapf löste sich von Erics Kopf, pendelte und schrieb ihre Zeichen in die Luft. Dann kippte Graudenz zur Seite, er suchte nach Halt und riß den Anästhesieapparat polternd mit sich zu Boden. Der zweite Assistent stand leicht zitternd da, er starrte auf Bell, auf Eric, dann drehte er sich zu Janet um – Janet lag verkrümmt am Boden. Da fiel auch er um.
Janet wartete noch dreißig Sekunden. Ihre Lippen bewegten sich im stummen Zählen. Dann richtete sie sich vorsichtig auf. Sie trat auf Bell zu, hob einen seiner Arme und ließ ihn wieder fallen, sie zog sein Augenlid empor, der Blick war leer, das Lid schob sich wie Gummi über den Augapfel zurück. Bell war bewußtlos.
Sie trat zu Eric Frost. Auch seine Augen waren geschlossen. Eilig löste sie die Schrauben von seinem Kopf, lockerte die Riegel an Schultern und Becken und zerschnitt das Netz, das über seinem Leib lag. Sie band seinen Oberarm ab und injizierte eine gelbgrüne Flüssigkeit. Eine Sekunde lang sah sie ihm ins Gesicht. Dann drehte sie sich um. Sie zog den Handschuh von Bells rechter Hand, holte einen dicken Gummiring aus der Hosentasche und schlang ihn mehrmals um Bells eben freigelegten Daumen. Dann wählte sie ein Skalpell. Einen Moment zögerte sie – dann schnitt sie den Finger unterhalb der Gummifäden an der Wurzel ab. Sie drückte das Blut aus ihm heraus, wickelte ihn in ein Gazeband und steckte ihn ein. Die Wunde verschloß sie sorgfältig mit Plastosept. Nun griff sie in Bells Brusttasche und holte seine Erkennungsmarke heraus.
Der Narkoseapparat zischte immer noch – sie änderte nichts daran. Sie blickte auf die Uhr: Zehn Minuten vor zehn.
Wieder trat sie zu Frost. Auf seiner Stirn erschienen Falten und verschwanden wieder. Sie nahm alle ihre Kraft zusammen und hob ihn aus dem Stuhl. Seine Wangen waren eingefallen, mit seinem Kahlkopf und dem gestreiften Krankenanzug sah er kindlich zart aus, aber er war schwerer, als sie gedacht hatte. Sie ließ ihn auf den Boden gleiten, ergriff seine beiden Handgelenke und zerrte ihn zur Tür, die in das Laboratorium führte. Sie steckte ihre Erkennungsmarke in den Schlitz – die Tür öffnete sich, und Janet zog Eric über die Schwelle. Hier ließ sie ihn liegen. Rasch ging sie noch einmal zurück und brachte die Gasflasche, mit der sie das Operationsteam betäubt hatte, herbei. Sie stellte sie zu einigen anderen, die dort in einer Reihe standen, und schob die Tür zu. Sie band ihre Operationsmaske ab, löste eine Nasenklemme und spuckte das Filterstück einer Gasmaske aus, das sie heimlich getragen hatte. Nun bückte sie sich zu Eric. Mehrmals schlug sie ihn kräftig auf die Wangen. Die Schläge waren hart, und doch lag eine versteckte Zärtlichkeit darin. Als sich Eric nicht rührte, drehte sie ihn herum und hämmerte ihm mit der Handkante in die Nierengegend.
Eric stöhnte und versuchte auszuweichen. Sie schlug noch einmal heftig zu und schüttelte ihn dann. Seine Augenlider klappten auf, ein verständnisloser Blick traf sie.
»Was ist... was?«
»Reiß dich zusammen, Eric! Steh auf! Nimm deine ganze Energie zusammen!«
»Was ist... bin ich schon...?«
»Nein, Eric! Alles in Ordnung. Alles wird gut, wenn du dich zusammennimmst und mit mir kommst!«
»Aber ich...« Kraftlos fiel sein Kopf zurück.
»Steh auf! Sofort!« Nochmals gab sie ihm zwei leichte Ohrfeigen. »Du kommst mit mir!«
Eric taumelte auf.
»Zieh das an!«
Sie warf ihm einen weißen Kombinationsanzug und eine Schirmkappe hin und deutete auf ein Paar Schuhe. Eric gehorchte. Während der gewohnten Handgriffe des Aus- und Ankleidens wurden seine Bewegungen zusehends sicherer. Es war zehn Uhr fünf.
»Jetzt geh hinter mir her. Du mußt einen völlig normalen Eindruck machen. Hörst du: du mußt! Es sind nur ein paar Schritte!«
Sie öffnete die Tür zum Korridor und trat hinaus. In der Ferne des Ganges standen einige braungekleidete Mädchen, keines beachtete sie. Sie sah sich nicht um, aber sie hörte es: Eric folgte ihr.
Sie ging ein paar Schritte bis zum Lift und winkte Eric, mit ihr über die grünbeleuchtete Schwelle in die Kabine zu treten. Der grelle Strich an der Ritze zwischen Fahrstuhlboden und Aufzugschacht wechselte über Gelb und Orange zu dunklem Rot. Sanft löste sich die Magnethalterung, der Motor lief an, die endlose Kette, an der die fünfhundert stachelförmigen Liftkammern hingen, lief drei Meter weiter und hielt wieder weich. Rotes Licht, grünes Licht, grünes Licht, rotes Licht; Passage gesperrt, Passage frei, Passage frei, Passage gesperrt; Anlaufen, das schwebende Gefühl des Sinkens, der Andruck der Verzögerung, die fünf Sekunden Wartezeit... Mehr als drei Personen durften die Kabine nicht betreten – war sie besetzt, dann blieb die Warnbeleuchtung rot. Eine Person hätte noch Platz gehabt, aber niemand stieg zu ihnen herein. Janet stand breit, mit dem Rücken gegen die Zutrittöffnungen, und verdeckte Eric, der an der Hinterwand lehnte, vor den Blicken von außen. Eric hielt die Augen halb geschlossen. Er brauchte seine gesamte Energie, um sich aufrechtzuerhalten.
Janet blickte in das fremde Gesicht vor ihr. Seit drei Tagen hatte sie sich in einem Taumel gegensätzlich gerichteter Regungen befunden, sie hatte gegen Unbekanntes gekämpft, das in ihr wach geworden war, ihr Denken hatte sich in Geleisen verfahren, aus denen keine Weiche führte, mit psychologisch-sezierender Überlegenheit hatte sie ihren Zustand analysiert, und sie glaubte, die Ursache für ihre Verwirrung erkannt zu haben. Zugleich aber wußte sie, daß sich ihr Verstand nur an der Oberfläche rieb, daß ihre unklaren Wünsche viel mächtiger waren und daß ihre Analyse der Situation nichts an ihren Handlungen ändern, sondern höchstens ihr Entsetzen vor sich selbst verstärken würde. Sie hatte ihre Arbeit getan, die Testergebnisse registriert, die Versuchslisten ausgewertet, sie hatte das Reinigen ihrer Laborgeräte überwacht, den Druck und die Zusammensetzung des Gases in den Flaschen geprüft, sie hatte Patienten fotografiert, Mikrofilme hergestellt und Mikrofilme studiert, sie hatte Bell bei seinen Diagnosen geholfen, bei seinen Eingriffen assistiert, sie hatte seine Besprechungen auf Band aufgenommen und die Diktatstreifen in die Klappen der Rohrpostschächte geschoben. Sie war mit einem Elektrowagen in ihr Heim gefahren, hatte aus dem Automaten ihre Mahlzeit zusammengestellt, hatte mit anderen zusammengesessen – vor den Bildschirmen der Kinoräume und zwischen den Mikrofonen der Stereos. Alles hatte sie getan, als ob es jemand anderer getan hätte, wie ein Uhrwerk abläuft, auf das sie nicht zu achten brauchte, sie hatte gesprochen und gelacht, aber es waren nur Zunge und Stimmbänder, die die Worte geformt hatten, nur Lippen und Wangen, die sich zum Lachen verzogen hatten. Sie selbst war aus sich herausgetreten oder auch tief in sich hinein – sie hatte vieles, was mit ihrem Beruf zusammenhing, zum erstenmal verstanden – jetzt, wo es ihr gleichgültig war –, und sie erschrak vor der Kluft dieses Unterschieds zwischen Mitgeteiltem und Selbsterlebtem. Sie hatte viel erfahren über die Strukturen im Gehirn, die Vorgänge in den Nerven, die Umsetzungen in den Drüsen, die alles das hervorriefen, was sie jetzt litt. Doch nun brach der Stolz der wissenden Überlegenheit in ihr zusammen, sie erkannte, daß Kenntnisse nicht Macht bedeuten, daß sie trotz ihres Wissens diesen Dingen unterworfen war wie alles andere, wie die übrigen Menschen, wie die Tiere in den Gehegen, wie die Pflanzen in den Gärten, wie Wasser und Stein, wie Atome und Welten. Sie war verstört vor dieser Urgewalt, sie hatte sich gewehrt, und nun hatte sie sich hineingefügt. Jetzt, da sie gehandelt hatte, wußte sie, was es bedeutet, schuldlos an dem zu sein, was man tut.