Eric schlug die Augen auf. »Ruth!« flüsterte er.
»Ich heiße Janet«, sagte sie.
Die Zahlen auf der Leuchtscheibe wechselten.
»Das Schwierigste ist die Sperre«, sagte Janet. »Du kommst hinaus, wie du vor drei Tagen hereingekommen bist: Du drückst den Daumen auf den Reliefabtaster und steckst die Lochmarke in den Schlitz. Dann gehst du durch das Zählwerk... Nicht deinen Daumen«, sie kam Erics Frage zuvor, »den Daumen von Bell.«
Sie reichte ihm die Marke und das Gazepäckchen. Eric steckte beides in die Tasche. Jetzt sah er sie aufmerksam an.
»Die Rampe«, sagte Janet. »Komm!« Sie berührte ihn am Ärmel und trat aus der Kabine. Ab- und anschwellende Surrgeräusche schwebten in der Luft. Der Gang öffnete sich nach einigen Metern zu einer langgestreckten Halle. Eine Wand bestand aus einem weitmaschigen Drahtgitter, das von Türöffnungen unterbrochen war. Davor standen die drehbaren Flügel der Zählvorrichtung in Hüfthöhe an ihrer senkrechten Achse, wie seltsame Blumen an metallenen Stengeln. Daneben hingen die Kästen der Pförtnerautomatik.
Janet trat in das Halboval. Wie die Kiefer einer Zange umfaßten Stahlflügel ihre Taille. Sie drückte den Daumen der Rechten auf die blaßgelbe Membran aus amorphem Molybdän und steckte zur gleichen Zeit die magnetisierte Metallscheibe in den Schlitz. Eine halbe Sekunde verrann, dann ertönte ein Schnarren, und die Plattform drehte sich samt dem Mädchen um einen rechten Winkel. Das nächste Flügelpaar streckte sich Eric wie ein Paar geöffneter Hände entgegen.
Ein einzelner Mann kam die Treppe heruntergeeilt und ging auf eine der Pforten zu. Er schaute weder rechts noch links. Aus dem Hohlraum des Ganges schwirrten Stimmen. Aus dem Schlauch der Straße kam das Brausen in wechselnden Böen. Jenseits des Gitters wartete Janet.
Eric stellte sich in die Klammer der Stahlarme. Er sah sich nach allen Seiten um. Zwei dahinschlendernde Menschen im Hintergrund der Halle unterstrichen die Leere aus Stahl, Zement und Neonlicht. Sie blickten nicht in seine Richtung. Doch nun hallten Schritte hinter ihm.
Eric hatte die Hüllen des Päckchens in seiner Tasche etwas gelockert. Ihn ekelte vor der Berührung mit der schlappen, blutigen Masse, doch überwand er sich. Unter dem Handteller verborgen drückte er die schmale Fläche mit dem kennzeichnenden Hautleistenbild auf die Scheibe und steckte die Marke in die Schlitzöffnung des Apparats. Die halbe Sekunde dehnte sich nerventötend lang. Dann ertönte das Schnarren, die Plattform trug Eric durch die Gitteröffnung. Er trat neben Janet.
In einer langen, schief geparkten Reihe warteten die batteriebetriebenen Kabinenfahrzeuge auf ihre Benutzer, unsichtbar an der unter dem Plastikboden laufenden Magnetschiene verankert. Jetzt, inmitten der Arbeitszeit, war der Verkehr gering, nur selten schoß auf der gegenüberliegenden, auf der schnellsten Bahn, ein einzelner Wagen entlang. Alle langsameren Bahnen waren frei. Obwohl das unterirdische Straßennetz nirgends Verbindung mit der Außenwelt besaß, war hier die Luft stets in Bewegung, sie strömte langsam und stetig durch die Tunnelgänge, sie streifte mit leisem Rauschen an den Wänden, wirbelte träge um die Ecken der Kreuzungen, tastete zögernd in die Hallen der Parkplätze und trieb einen Hauch von Kühle, Feuchtigkeit und Moder vor sich her. Das Pfeifen, mit dem die Gummireifen über die Bahnen rollten, zog durch das Labyrinth, teilte sich, brach sich, vereinigte und mischte sich zu einem unbestimmten Rauschen, das den Hohlraum der Straße wie eine Flüssigkeit erfüllte.
Janet und Eric gerieten ganz unvermittelt in diese Zone von verwischten Geräuschen, von Dämmerung, Strömung, naßkaltem Brodem und dampfenden Gerüchen, und es war wie der Atem der Freiheit, aber keine einladenden, freundschaftlichen, sondern einer widerspenstigen Freiheit voll unbestimmter Tücken.
Janet öffnete die Tür und trat ein. Sie setzte sich an das Armaturenbrett und drückte auf einige Knöpfe. Ein weißleuchtender Linienzug quoll aus einem in die Kunststoffplatte vertieft eingezogenen schematischen Plan.
Eric Frost hatte sich auf einen der Hintersitze sinken lassen. Er hatte vor der Operation zwei Tage lang nichts zu essen bekommen, und die Betäubungsgifte saßen noch in seinem Blut.
Janet nahm eine Phiole mit Energontabletten aus der Tasche und legte sie ins Handschuhfach. Dann erhob sie sich.
»Hör mir eine Minute zu, Eric«, sagte sie.
Sie sprach eindringlich wie zu einem gutwilligen dummen Kind: »Nur noch eine Minute, dann kannst du schlafen. Ich gehe jetzt zurück. Sobald ich ausgestiegen bin, drückst du auf den Starter. Komm, setz dich hierher.« Sie stand auf und machte ihm Platz. »Vergiß es nicht: Du mußt auf den Starter drücken.«
Eric schreckte zusammen. »Du gehst zurück?« – »Ich muß!« Janet verließ den Wagen. Sie sprach rasch zur Tür herein.
»Ich habe einen Weg eingestellt, der dich zuerst einige Kilometer fort – und dann immer wieder in einem großen Kreis herumführt. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Ich komme wieder. Ich weiß noch nicht, wann, aber ich komme sobald wie möglich wieder. Ich werde dann einen anderen Wagen nehmen und dich suchen. Ich werde hinter dir herfahren, und du wirst zu einem Parkplatz steuern. Dorthin folge ich dir. Dann steigst du zu mir über.«
»Werden sie mich nicht...?« Eric ließ seine Befürchtung unausgesprochen.
»Nein. Ich weiß, was die Schutztruppe in solchen Fällen tut. Solange du fährst, bist du in Sicherheit.« Sie zögerte. »Jetzt gehe ich«, fügte sie dann hinzu. Sie trat zurück. »Fahr los!«
Eric bewegte sich undeutlich im Innern. Das Elektromobil scherte aus der Reihe aus und rollte auf die erste Fahrbahn. Allmählich gewann es Geschwindigkeit und tauchte in den Tunnel ein.
Janet drehte sich um und ging mit festen Schritten auf die Pforte zu. Sie kam unangefochten durch und suchte den Lift auf. Im zweiundsechzigsten Stockwerk stieg sie aus und betrat das Operationszimmer durch das Labor. Sorgfältig schloß sie die Tür hinter sich zu. Die magnetische Verriegelung schnappte mit einem häßlichen Geräusch ein.
Janet begab sich auf jenen Platz, auf dem sie früher die Betäubte gespielt hatte. Der zweite Assistent hatte sie dabei gesehen – und das war gut. Alle lagen so da, wie vorher, als sie den Raum verlassen hatte. Sie blickte auf die Uhr: zehn Uhr vierundzwanzig. In genau derselben Haltung wie vorher legte sie sich auf den Boden. Das Gras wirkte schnell, Schwindel hob den Boden unter ihr empor, Sekundenbruchteile des Schwebens, der Müdigkeit...
Und ihr Denken schlief ein.
Scharfer, ätzender Geruch war das erste, was die Sperre ihres Empfindens gegen die Außenwelt durchbrach. Sie rang nach Luft und hustete krampfhaft – die Atemnot zwang sie ins Wachsein zurück, obwohl sie ein zentnerschwerer Block in ihrem Kopf auf eine federnde Unterlage fesselte. Das Gewicht gab ein wenig nach, sie öffnete die Augen und blickte in das Rechteck von Czernys Gesicht.
»Gleich wird sie reden können«, sagte eine Stimme. Ein Fläschchen blinkte vor ihren Augen, und wieder brachte der erstickende Geruch ihre Nasenschleimhäute in Aufruhr. Sie hob eine Hand und schob das Glasgefäß beiseite.