»Nichts mehr zu sehen. Komm, vielleicht holen wir ihn noch ein!«
Er nahm ihr zwei der Beutel ab und eilte vorwärts.
Es ging um einige Biegungen, dann fiel der Boden steil ab, der Raum verbreiterte sich, das Wasser rann wieder an der Oberfläche ab.
Eric packte Janet jäh am Arm. »Hörst du nichts?«
Jetzt war es deutlich. Schottergestein rasselte hell, verhaltene Rufe erschollen, etwas schlug und hallte... Es ging vorüber wie ein Spuk. Leises Schleifen auf den Steinen... dann Stille.
Eric ging wieder vor, vorsichtig schaute er um den Knick, ließ den Schein in einen Raum mit mehreren einmündenden Gängen fallen – am Boden bewegte sich eine Gestalt – der Greis richtete sich auf, humpelte davon...
Eric setzte ihm nach und hatte ihn nach einigen Sekunden eingeholt. Er riß ihn herum – ein zerfaltetes, blutiges Gesicht glotzte ihn an, ein geifernder Mund spie Schimpfworte aus, eine zittrige Greisenhand schlug wirkungslos auf ihn ein. Er versuchte ihn festzuhalten, sagte einige beruhigende Worte, doch der Alte wand sich und zappelte, ließ sich zu Boden fallen und trat mit den Füßen nach ihm. Ratlos trat Eric von ihm zurück – auf allen vieren kroch der Greis davon. Eric fühlte etwas Feuchtes auf seiner Hand – sie war an das Gesicht des Alten gekommen: Es war Hefebrei mit Spuren von Blut.
Eric wandte sich zu Janet. Sie zeigte auf den Boden. Der Sand war zerwühlt, darauf lagen ihr in Fetzen gerissener Plastikbeutel und eine offene halbleere Dose. Hefebrei quoll heraus.
»Er wurde überfallen«, sagte Eric. »Noch während des Handgemenges muß er versucht haben, möglichst viel von dem Hefebrei in sich hineinzuschlingen.«
Janet hatte die Augen vor Schreck weit aufgerissen, sie glänzten matt aus dem Schatten heraus.
»Was sollen wir tun?«
»Zum Umkehren ist es zu spät. Wir gehen weiter.«
Vor ihnen lag die Dunkelheit, und sie gingen in sie hinein.
Als die Leuchtscheibe von Erics Armbanduhr die Ziffern 2200 zeigte, steuerte Eric auf einen nischenartigen Raum zu und ließ seine Bündel zu Boden sinken.
»Hier übernachten wir.«
Er riß die Folie von einem Packen Zwiebackscheiben und ließ aus einer Tube Tomatenmark darauffließen. Er öffnete eine Dose eingelegter Feigen und eine andere mit Mandelmilch.
»Iß«, forderte er Janet auf.
»Sollten wir nicht sparsamer sein?« fragte sie.
»Iß«, sagte er noch einmal, und als sie ihm gehorchte, griff auch er zu. Dann rollte er die beiden von Janet mitgebrachten Overalls auseinander, einen breitete er am Boden aus, den anderen hielt er ihr entgegen.
»Zieh das an! Und dann leg dich schlafen!«
»Und du?« fragte sie.
»Ich bleibe noch etwas wach«, erwiderte er.
Als sie dann still lag, löschte er das Licht. Er konzentrierte sich auf die Geräusche, aber außer dem eintönigen Geplätscher hörte er nichts. Dafür trat ein unbestimmtes Leuchten aus der Schwärze heraus und wurde deutlicher, je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten – graudämmrige Streifen, die die ewige Nacht durchbrachen. Er ließ das Licht wieder aufblinken und trat an eine jener Stellen heran. Augenblicklich versiegte das Leuchten, statt dessen lagen feuchte, tropfenbesetzte Felder von farblosen Algen auf dem Stein. Eric stieg zum Flußrand hinab. Halb im Wasser hatte er dunkle Striche bemerkt, verbogene Aluminiumstangen. Er hob eine auf und ließ sie durch die Luft pfeifen. Dann ging er zu Janet zurück und setzte sich an die Wand.
Janet hatte sich auf die Steine gerollt und die Augen geschlossen. Aber trotz ihrer Müdigkeit fiel es ihr schwer, Ruhe zu finden. Sie hatte die sicheren Schritte Erics gehört und ihn durch die Lider blinzelnd beobachtet. Er ließ sich dicht bei ihr nieder, im Dunkeln ahnte sie seine Nähe, und sie rückte leise noch ein wenig an ihn heran, bis ihre Hand seine Ellbogen berührte. So fühlte sie sich dem Dunkel nicht so schutzlos preisgegeben. Sie döste ein wenig, doch dann flutete wieder Furcht in ihr hoch – Furcht vor der fremden Welt um sie herum, Furcht vor den unheimlichen Bewohnern dieser Verliese, Furcht vor dem, was ihr bevorstand. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf, in dem die Träume das Wacherleben verzerrten, das Schreckenerregende noch erregender, das Erhoffte noch erhoffenswerter machten. Sie erwachte oft, feuchte Kälte kroch vom Boden her zu ihr hoch, eine Haut von Frösteln spannte sich um ihre eigene, von innen durchwärmte. Sie horchte auf die leisen Atemzüge Erics, plötzlich durchpulste sie ein eigenartiges, noch nie erlebtes Gefühl von Verlangen, Erwartung und Angst. Sie sehnte sich nach einer leisen Zärtlichkeit, ohne daß sich ihre Wünsche zu konkreten Vorstellungen verdichteten, und seltsamerweise war sie sich bewußt, daß sie im Moment über jede zu ihr gerichtete Bewegung Erics tödlich erschrocken wäre. So schirmte sie ein zerbrechlicher Panzer aus Traum und Wachtraum, Einbildung, Wissen und Ungewißheit vor der Drohung der Nacht.
Eric wachte, aber auch er ertappte sich beim Träumen, als er auf ein Geräusch aufmerksam wurde. Er hob die Handlampe und durchstach das Schwarz mit ihrem hellen Strahl. An einem Sandhaufen im trockenen Teil des Flußbetts bemerkte er Bewegung, die kein Trugbild war. Dort hockte ein Mann, der sich langsam hinter den Hügel zurückzog. Eric ließ den Lichtschein am Boden entlanggleiten – da saß noch eine Gestalt, grau und plump, wie aus Erde geformt, und dort löste sich jemand von der Wand und tauchte in der Finsternis unter.
Eric tastete nach Janets Arm. Er rüttelte ihn. Janet war sofort wach, ihr Herz klopfte ungestüm.
»Da sind sie«, flüsterte Eric.
Janet schaute angestrengt in die Schwärze und glaubte, tausend phosphoreszierende Augenpaare zu erkennen. Sie erinnerte sich an einen Film; wie die Wölfe, dachte sie.
Eric ließ mit der Linken den Scheinwerfer kreisen, seine Rechte umfaßte die Metallstange. Jetzt war es schon ein Dutzend ausgemergelter Gestalten, die ringsumher lungerten.
»Was wollt ihr?« rief Eric.
Niemand antwortete, doch der Kreis schloß sich zusehends.
Und dann fuhr von hinten ein brennendes Bündel vor Erics Beine, und es ging los. Einer schnellte vor und griff nach dem auf dem Boden liegenden Anzug... Eric schlug mit seiner Stange zu.
Ein anderer sprang von der Seite her an die Plastikbeutel heran, und bevor Eric etwas dagegen tun konnte, blinkte ein Messer vor ihm, gegen das er sich wehren mußte. Fünf, sechs Menschen stürmten auf ihn ein, auch zwei Frauen waren dabei, sie umklammerten seine Arme und Beine, legten sich wie klebriges Gewürm auf ihn – er schüttelte sie ab, er spürte ihre Schwäche, seine Überlegenheit, er trat um sich... Aber er konnte nicht schnell genug an allen Seiten sein, zwei Plastikbeutel waren verschwunden, ein Anzug fehlte, Janet saß mit dem zweiten Overall und mit den letzten Vorräten an der Wand und hielt sie krampfhaft fest, während magere Finger daran zerrten. Eric kämpfte sich zu ihr hin, der Widerstand wurde schwächer, vor ihm balgte sich ein Rudel um einen aufgerissenen Plastikbeutel, einige Schatten hetzten hinter einem her, der mit dem erbeuteten Overall davonlief. Eric sprang in den Tumult der Streitenden und riß den Sack an sich, rücksichtslos ließ er seine Waffe auf die Körper hinunterfallen, doch aus den Tiefen des Ganges kam Verstärkung, wieder hing ein halbes Dutzend von Räubern an ihm wie Kletten, und er schleuderte sie von sich, und wieder löste sich das Durcheinander in einzelne um Dosen, Schachteln und Flaschen streitende Gruppen auf.
Dann aber legte sich der Aufruhr wie von Geisterhand berührt. Einige Hände rafften noch verstreute Gegenstände zusammen, man hörte das Getrappel von Füßen und dann nichts mehr. Noch immer schlugen Flammen aus dem brennenden Bündel.
Janet lief zu Eric hinüber und hielt sich an seinem Arm fest.
»Es ist noch jemand da!« flüsterte sie.
»Meine Lampe ist verschwunden«, flüsterte er zurück.