»Hörst du nichts?«
»Nein.«
»Ich höre etwas...«
Sie lauschten.
Vor ihnen zuckte ein Flämmchen, und dann loderte es – eine Fackel, dahinter vier Männer.
»Sieh mal einer an – zwei Neulinge.« Die Stimme kam von der Seite – dort stand ein fünfter Mann. Er war klein, hatte pechschwarzes Haar und trug, soweit man es erkennen konnte, saubere Kleidung. Er hielt etwas in der Hand. »Ah, ein Mädchen, eine süße Blonde. Seht nach, was sie uns mitgebracht haben!«
Die vier kamen auf sie zu. Eric bückte sich nach der Stange.
»Halt, Bürschchen!« rief der Kleine. »Wirf die Stange fort! Na, wird’s bald!«
Eric gehorchte nicht. Der Anführer wandte sich an die Männer.
»He, Jungs, bleibt stehen. Der ist verrückt.« Er drehte sich zu Eric um. »Hast du nicht gehört, du komische Figur? Kannst du nicht sehen? Weißt du nicht, was das ist? Soll ich es dir erst zeigen?«
Er hob ein Ding, das er in der Hand hielt, hoch. »Das ist ein Revolver, Bürschchen. Weißt du, was man damit macht? Laß die Stange fallen, sonst knallt’s! Heb die Hände hoch!«
Eric kannte solche Waffen aus den Kinos, aber er war sich nicht recht im klaren über ihre Wirkungsweise. Er zögerte.
»Also gut!« sagte der Kleine und schoß. Eric spürte einen Schlag auf der rechten Brustseite. Die Stange entfiel seinen kraftlosen Fingern. Die Knie wurden weich und gaben nach. Er sank in sich zusammen.
»Also, was gibt es für uns?« fragte der Kleine.
»Konserven«, sagte der eine. »Mandelmilch, Zwieback, Zucker.«
»Schuhe, Chef«, sagte der zweite. »Feine Schuhe.«
»Die Anzüge sind prima Qualität«, sagte der dritte.
»Einen Scheinwerfer – leider kaputt«, sagte der vierte.
»Legt die Sachen auf einen Haufen. Und zieht ihnen die Klamotten aus.« Er blieb mit erhobener Waffe abseits stehen.
Gierige Hände faßten nach Janets Kleidern. Sie stieß nach einer tastenden Hand, doch eine andere riß ihren Kopf an den Haaren hinunter. Sie spürte Hände an ihren Schuhen und am Gürtel ihrer Kombination. Wie eine wildgewordene Katze wand sie sich aus den Griffen, sie kratzte und biß, ein Arm wurde ihr auf den Rücken gedreht.
»Vorwärts, Jungs«, hörte sie die Stimme des Anführers, »die Kleine ist für euch!«
Blitzschnell war sie wieder auf den Beinen und rammte einem der Gegner den Kopf in den Bauch. Sie spürte einen Schlag im Genick, und der Kampf war zu Ende. Alle ihre Muskeln wurden weich, sie sah einen roten Himmel lodern, hörte ein grölendes Lachen, und dann war nichts mehr in ihr als Betäubung und Schmerz.
Janet erwachte von einem leisen Ziehen an ihrem Haar. Sie konnte sich weder bewegen noch ihre Augen öffnen, aber sie spürte etwas Weiches an ihrem Kopf krabbeln, und ihre aufgereizte Phantasie malte ihr in den buntesten Farben ekelhafte Greuelwesen aus. Es atmete und schnupperte in der Nähe ihres Ohrs und zog in ihrem Haar. Wehrlos litt sie Höllenqualen.
Eric fiel ihr ein. Sie wollte schreien, aber ihre Stimmbänder versagten. So rief sie nur im Gedanken nach ihm.
Dann hörte sie Schritte und einen Ruf, etwas huschte von ihr weg, und etwas Großes, Beruhigendes näherte sich, sie spürte Hände auf ihren Schultern und Lippen auf ihrem Gesicht, sie konnte sich wieder bewegen und die Augen öffnen, aber sie bewegte sich nicht und sie öffnete auch die Augen nicht. Sie lag eingebettet in einem Gefühl von Verzweiflung, Trauer und Ratlosigkeit, sie hatte noch nie genug gelitten, um zu weinen, und sich nicht genug gefreut, aber jetzt weinte sie, und sie fragte nicht, ob es Freude oder Leid war, das an ihre Tränen rührte, oder beides – zu einem verschmolzen.
Dann war die Woge des Wohlwollens verströmt – es wurde still um sie. Jetzt machte sie die Augen auf. Zuerst sah sie nichts, erst allmählich wuchsen die Gegenstände empor, getragen von dem sanften Schimmer, der von den Wänden rann, und sie sah Eric neben sich am Boden liegen, und sie spürte etwas Feuchtes an ihrer Seite. Sie tastete danach, fühlte die Rippen und den verschorften Rand der Wunde. Leise schrie sie auf. Sie war wieder ganz wach. Sie zitterte vor Kälte. Ihre Kleider waren gestohlen. Um sie herum verstreut lagen einige Lumpen, die die Räuber achtlos fortgeworfen hatten. Sie klaubte sie zusammen, suchte ein paar für sich heraus und zog sich an. Das größte Stück riß sie der Länge nach in Streifen. Sie war Ärztin. Sie konnte es beurteilen: Die Wunde war nicht allzu schlimm. Eric hatte Glück gehabt, die Kugel war an einer Rippe abgeprallt; neben dem verschorften Loch war sie noch zu fühlen. Aber Janet hatte kein Reinigungsmittel, kein Verbandszeug, keine Instrumente – nicht einmal Licht. Sie legte ihren Mund an die Wundöffnung und leckte Blut und Schmutz weg. Dann zog sie die Haut mit dem Projektil in einer Falte von Erics Körper weg und quetschte es mit den Fingern zum Einschußkanal heraus. Eric bäumte sich vor Schmerz auf und stöhnte. Sie drückte ihn mit dem Knie hinunter und sog die Wunde noch einmal aus. Dann lief sie zum Wasser, wusch einen Plastikfetzen, wrang ihn aus, feuchtete ihn mit Speichel an, legte ihn auf die Wunde und band die Stoffstreifen darüber. Hierauf zog sie Eric, so gut es ging, die übrigen Lumpen über. Völlig erschöpft ließ sie sich zu Boden sinken.
Wieder rührte sich etwas, wieder schlich es sich heran. Es trieb sie aufzuspringen und zu schreien, aber ihre Selbstbeherrschung siegte. Sie drehte sich nur ein wenig herum, um in die Richtung blicken zu können, aus der sich die Geräusche näherten. Ein Schatten hockte auf dem Boden, trippelte einige Schritte näher, wartete, kam noch näher, ganz nah... Wieder zupfte es sanft an ihrem Haar.
Hart packte sie zu. Sie hielt etwas Zappelndes in den Armen, etwa Klapperdürres, Wieselflinkes, sich schwächlich Wehrendes – ein Kind, ein Mädchen mit langem, wirrem, strähnigem Haar, der Größe nach vielleicht zehn Jahre alt, dem Gewicht nach sechs... Aus seinen Fingern löste sich etwas, fiel zu Boden, Janet hielt das Mädchen mit der einen Hand fest, mit der anderen tastete sie herum...
Da war es: ihre gläserne Haarspange.
Sie redete dem Kind zu, doch die Furcht verschwand nicht aus seinen alten Augen.
»Ich tu’ dir nichts«, sagte sie. »Halt doch still! Wenn du nicht davonläufst, lasse ich dich los. Versprich mir, daß du nicht davonläufst! Die Spange darfst du behalten. Versprichst du es mir?«
Das Mädchen nickte heftig.
Janet ließ los. Einen Augenblick stand es regungslos, dann hetzte es davon.
»Du brauchst nicht wegzulaufen!« rief Janet.
Die Schritte waren verklungen.
»Ich habe die Spange noch. Willst du sie dir nicht holen?«
Schweigen.
Janet ging einige Schritte vor. »Du brauchst nicht zu mir zurückzukommen«, rief sie. »Schau, ich lege die Spange hier auf diesen Stein. Ich gehe wieder weg von hier. Du kannst sie dir holen.«
Sie drehte sich um und ging zu Eric zurück. Eine Weile rührte sich nichts, dann schnellte es heran, zum Stein mit dem glänzenden Gegenstand und wieder zurück in den Schutz der schwarzen Schatten. – »Wenn du willst, kannst du wiederkommen«, rief Janet.
Sie bückte sich zu Eric und fühlte seinen Puls. Er schlug schwach und langsam, aber regelmäßig. Sie begann seine Stirn zu massieren, knetete dann den Nacken und die Muskeln der Oberarme. Er seufzte, drehte sich im Liegen herum und murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie massierte ihn eifrig weiter. Draußen, unter dem ovalen Bogen des weiterführenden Ganges, erschien eine schmale Gestalt, doch Janet kümmerte sich nicht darum.
Eric schlug die Augen auf. Er griff die massierende Hand Janets und hielt sie fest, als müsse er sich davon überzeugen, daß sie aus Fleisch und Blut war. Da bemerkte er eine Bewegung im Gewölbe und versuchte, sich aufzurichten, doch sank er mit einem Ächzen wieder zur Erde.
»Alles in Ordnung, Eric«, beruhigte sie ihn. »Es ist nur ein Kind.« – Sie schaute nicht zur Seite.