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»Du kannst herkommen, wenn du magst«, sagte sie. »Ich habe nichts mehr, was ich dir geben könnte, aber, wenn du willst, darfst du bei uns bleiben.«

»Warum tust du das?« fragte Eric.

»Sie kennt sich hier aus. Vielleicht können wir sie zum Reden bringen.«

»Denkst du noch an das Meer, Janet?«

»Ja«, sagte Janet. »Ja.«

»Hast du keine Angst?«

»Wovor? Wir haben nichts mehr, was man uns nehmen könnte.«

»Wie lange werden wir es hier aushalten können?«

Nicht lange, dachte sie, ich halte es hier nicht lange aus: selbst mit dir nicht, Eric. Aber sie sagte es nicht.

Das Mädchen war bis auf zwei Meter herangekommen. Es hockte im Sand und lauschte. Das Haar hatte es mit der Spange im Nacken befestigt.

»Wie heißt du?« fragte Janet. Und nach einer Pause: »Kannst du nicht sprechen?«

Das Kind nickte.

»Nun, wie heißt du denn?«

Das Gesicht schaute ihnen als fahler Fleck entgegen.

»Maus«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Maus.«

»Bist du schon lange hier, Maus?«

»Schon immer.«

»Hier am Wasser ist es ziemlich unbequem. Weißt du keinen schöneren Platz?«

Das Kind stand auf.

»Komm«, sagte es.

Janet half Eric beim Aufstehen. Er stützte sich schwer auf sie.

Das Kind lief vor ihnen her. Es rannte ein Stück vor, kam zurück, winkte, lief wieder vor, streckte den Kopf witternd hoch, winkte...

Es schien im Dunkeln sehen zu können – als sie die Strecke, in denen es die leuchtenden Algen gab, verließen, nahm es Janet an der Hand und führte sie durch das flüssigdicke Schwarz. Vor ihnen rauschte es, und plötzlich war das Rauschen über ihren Köpfen. Wassernebel sprühte auf sie herab. Dann stießen sie plötzlich auf schmale Stufen aus roh übereinander geschichteten Steinen, warme trockene Luft wehte ihnen entgegen. Der Gang endete an einem siebartigen Gitter, aus dem der heiße Wind kam.

»Hier schlafe ich immer. Niemand kennt diese Stelle – nur ich«, sagte das Kind.

Eine endlos lange Zeit verstrich. Es gab kein Mittel, um festzustellen, wie lange sie währte, außer dem Hunger und der Müdigkeit. Die meiste Zeit verdösten sie, an das wärmespendende Gitter gepreßt, ohne zu sprechen, ohne zu denken. Mit Entsetzen stellte Janet von Zeit zu Zeit fest, wie rasch sie vertierten, aber die Finsternis, die Furcht, die Lebensgier, der Hunger und die Müdigkeit waren stärker und halfen ihr, ihren Ekel vor sich selbst abzutöten. Zuerst wuschen sie sich noch gelegentlich, wobei ihnen das Kind erstaunt zusah, doch dann vergaßen sie es. Ihre Haare wurden strähnig, ihre Zähne gelb, ihre Gesichter grau.

Sie lernten rasch. Sie tranken das Wasser des Flusses. Dem Kind schadete es nicht, aber Janet und Eric wanden sich anfangs stundenlang mit Darmkoliken.

Es gab die Mündungen von Abfallschächten, und wer sie kannte und darauf wartete, bis wieder eine Ladung von oben herunterklatschte, der konnte manches eßbare Stück erbeuten. Das Kind kannte viele. Es gab auch Fische im Fluß, weiß, augenlos und aalartig, man konnte sie zubereiten, aber man brauchte dazu Feuer. Sie sammelten brennbare Abfälle und schütteten sie vor dem Gitter zum Trocknen auf – so gewannen sie Brennstoff. Das Kind wußte nicht, wie man Feuer macht; sie mußten es sich holen. Sie suchten die Verstecke von anderen Gruppen und nahmen brennende Scheite mit – ob man sie ihnen geben wollte oder nicht. Sie merkten, daß sie stärker waren als die anderen, aber bald spürten sie ihre Kräfte schwinden. Gelegentlich lauerten sie anderen auf, überfielen sie und verschafften sich Kleidungsstücke, Messer, Bindfäden, Gefäße – einmal erbeuteten sie sogar eine Schachtel mit fünf Zündhölzern.

Nur vor einem mußten sie sich hüten – vor demjenigen, der den Revolver besaß. Es war nicht mehr der kleine, schwarzhaarige Mann, die Waffe wechselte oft ihren Besitzer. Wenn man sie behalten wollte, durfte man niemand näher als fünf Meter an sich herankommen lassen, man mußte sich stets den Rücken freihalten und durfte nur in sicheren Verstecken schlafen.

»Einmal werde ich den Revolver haben«, sagte das Kind.

An ihr früheres Leben dachte Janet selten. Einige Tage Dunkelheit und Brutalität hatten genügt, es aus ihrem Gedächtnis zu wischen. Nur eines hatte sie sich in ihre neue lichtlose Existenz herübergerettet: ihre Zuneigung zu Eric. Und demgemäß war die Sorge um seine Wunde das einzige, was sie aus ihrer Lethargie weckte. Die Entzündung breitete sich immer weiter aus, der klopfende Schmerz wurde stärker, das Fieber stieg. Sie mußte sich eingestehen, daß er verloren war, wenn er keine ärztliche Hilfe bekam.

»Maus«, sagte Janet, »was geschieht mit Leuten, die krank sind?«

Das Kind dachte nach.

»Sie werden wieder gesund oder sie sterben.«

»Eric ist krank. Willst du, daß er stirbt?«

»Hm.« Maus wiegte den Kopf.

»Oben, in der Stadt, von wo wir gekommen sind, gibt es Mittel, um Kranke gesund zu machen. Ich muß ein solches Mittel besorgen. Denk einmal scharf nach: Hast du je etwas von einem Weg zur Oberfläche gehört?«

Wieder überlegte das Kind. – »Es gibt keinen Weg«, sagte es.

»Es gibt doch Zugänge! In welcher Gegend sind denn Menschen aufgetaucht, die neu hier angekommen sind?«

»Das weiß ich nicht. Aber es nützt dir auch nichts, wenn du es erfährst, denn alle sind über Leitern von der Decke gestiegen. Wie willst du dort hinaufkommen?« – Janet begann zu verzweifeln.

»Hast du nie davon gehört, daß jemand von hier verschwunden ist?«

»Doch – einige sind verschwunden.«

»Weißt du, wo sie zuletzt waren, bevor sie verschwunden sind?«

In dem alten Kindergesicht arbeitete es.

»Gehst du von hier weg, wenn ich es dir sage?« fragte Maus.

»Ja, aber ich komme wieder.«

»Du kommst nicht wieder. Sie lassen dich nicht zurück.«

»Willst du nicht mitkommen?«

»Nein. Oben gibt es Polizei. Und man muß arbeiten. Und immer tun, was andere sagen. Nein, ich will nicht mitkommen.«

Janet seufzte. »Warum soll ich denn bei dir bleiben?«

»Ich allein bin zu schwach. Wenn du bei mir bist, geht es mir besser. Und Eric wird bald sterben.«

»Bist du auch schwach, wenn du den Revolver hast?« fragte Janet.

»Den Revolver?« Die Augen des Mädchens öffneten sich vor Verlangen. »Willst du mir den Revolver geben?«

»Zeigst du mir dann die Stelle, wo die Leute verschwunden sind?«

»Ja.«

»Ich besorge dir den Revolver«, sagte Janet.

Sie erhob sich von ihrem Lagerplatz am Gitter, den sie mit Stoff- und Plastikabfällen weich ausgepolstert hatte. Derzeit besaßen sie keine Fackel, und es war finster, aber sie fand sich zurecht. An der Mauer des Ganges tastete sie sich entlang, die Steintreppe hinunter bis unter ihren Schutzschild, den Wasserfall, der oben einem steilen Gerinne entsprang und eine schmale Kammer an der Wand abschloß. Diesen Raum und das Gangstück dahinter hatte das Kind entdeckt, als es vor einem Jungen davonlief, dem es, während er schlief, die Mütze heruntergerissen hatte.

Unter dem Wasservorhang wartete Janet minutenlang, um sich davon zu überzeugen, daß die Luft rein war. Dann trat sie hinaus. Sie achtete peinlich darauf, daß sie nicht auf weichen Boden trat und Fährten hinterließ, die den Zugang hätten verraten können. Einige Meter flußaufwärts stieg sie ins Wasser und watete zum Wasserfall zurück. Seine Temperatur war gegenüber der Umgebung merklich erwärmt, wenn auch noch immer unangenehm kühl. Aber sie achtete nicht auf die Schauer, die über ihre Haut liefen. Sorgfältig wusch sie sich, besondere Aufmerksamkeit widmete sie dabei ihrem Haar, das verknotet, verfilzt und voll Ungeziefer war. Auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war, ging sie dann wieder zurück. Am Gitter, aus dem ununterbrochen die erhitzten Abgase irgendeiner Fabrik bliesen, schmiegte sie sich wieder in ihr Nest. Wie unter einem Fön trockneten die Haare und lockerten sich dabei zu einer seidigen, ihren Nacken streichelnden Masse.