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Am schweren Atmen erkannte sie, daß Eric schlief. Was Maus tat, wußte sie nicht – wahrscheinlich beobachtete das Kind sie mit einem aus der Urzeit ererbten und wiedergeweckten Sinn.

»Ich hole den Revolver«, sagte sie. »Bleib hier. Sorge für Eric.«

Das Kind brummte etwas.

Janet entfernte sich wieder. Diesmal ging sie in einen Nebenast des Flusses hinein. Hier mußte einmal ein wichtiger Platz der alten Stadt gewesen sein – jener Stadt, in der der Fluß noch in mehreren Kanälen offen zwischen niedrigen Häusern seinen Weg fand. Im Wasser rosteten die Trümmer altmodischer Schiffe, am Kai gab es Ruinen von Krananlagen, Rohrleitungen, Geleisen, Baracken. Die Gerippe von Draisinen, Lastwagen, Schleppern und Hubschraubern lagen über die Betonebene verstreut. Überall klirrten Scherben aus Silikatglas unter den Schritten. Es war eine Wüste aus Stein und Metall, alles Brenn- oder sonst irgendwie Brauchbare war längst davongeschleppt, demoliert, zerstört. Dazwischen ragten wie in regelmäßigen Reihen angepflanzt, massige Stützpfeiler zur Decke empor. Hier war das Reich des gegenwärtigen Beherrschers der Unterwelt: des Revolverbesitzers.

Janet fand ihn mit seinen Leuten an einem Bahndamm sitzen. Seine Anhänger, drei Männer und eine Frau, unterhielten ein mächtiges, schwelendes Feuer. Darüber blähte sich eine schmutziggelbe Rauchfahne. Zehn Meter von ihnen brannte ein kleines Feuer. Daran hockte eine einsame gedrungene Gestalt – der Mann, dem es zuletzt gelungen war, den Revolver an sich zu bringen, und der sich jetzt an der Aufgabe verzehrte, ihn zu behüten. Ohne die Menschen seiner Umgebung aus den Augen zu lassen, wärmte er die Hände an den Flammen.

Janet trat in den Feuerschein. Einer der Versammelten, ein junger Mann, bemerkte sie zuerst und rief etwas. Alle drehten sich herum.

Der Bursche stand auf. »Was willst du hier, Kleine?«

Er kam näher.

»Verschwinde!« keifte die Frau schrill. »Mach dich davon! Wir brauchen niemanden mehr!«

Der Bursche kam langsam näher. Janet stand hochaufgerichtet da. Auf ihrem Haar hüpften rotgoldene Reflexe, ihr Gesicht drückte Stolz und Hochmut aus. Der Gedrungene schaute über die Flammen seines Feuers aufmerksam herüber.

Janet war sich ihrer Erscheinung bewußt. Zwar war sie abgemagert, und wenn sie ihre Finger aufs Gesicht legte, dann spürte sie Falten und Rillen, die vorher nicht dagewesen waren, aber das Flackerlicht verwischte diese Fehler, und sie unterschied sich noch immer von den Weibern, die hier herumstreunten, wie ein Engel von schäbigen, alten Hexen. Den Männern der Stadt fiel eine hübsche Frau unter vielen anderen nicht auf, Männer und Frauen waren gleichberechtigt, ihr Triebleben war gering, vor ihrer vom Staat befohlenen Vermählung kümmerten sie sich nicht umeinander. Aber hier sahen sie manche Männer anders an. Die Gesichter, die sie anstarrten, waren früh gealtert, häßlich, verwüstet, die Blicke, die sie trafen, gierig und gemein, aber es war doch ein Interesse an ihr, das sie noch nicht erfahren hatte, und sie hatte die Macht erkannt, die sie hier ausübte. Und obwohl sie vor diesem Charaktertief zurückschreckte, auf das sie jetzt gesunken war, konnte sie ein Gefühl der Befriedigung, mehr, besser und wertvoller zu sein als die anderen, sie zu übertreffen und spielend auszustechen, nicht unterdrücken.

»Sie soll verschwinden«, rief die Frau am Feuer.

Der Bursche vor Janet tappte nach ihrem Arm.

Inzwischen war aber der Besitzer des Revolvers aufgestanden. »Laß sie!« rief er.

Der Bursche trat zurück und sah sich geduckt um. Die Mündung der Waffe zeigte auf ihn. Knurrend zog er sich zurück.

»Komm her«, rief der Revolvermann.

Janet schritt vorwärts, nicht langsam und nicht schnell, mit zurückgeworfenem Kopf.

»Halt!« Der Revolver schwenkte herum, sein hohles Auge starrte.

Der Kopf des Mannes saß tief zwischen den unförmig breiten Schultern, Brust und Unterleib waren nicht voneinander abgesetzt, sein Körper wirkte wie ein Schrank. Trotzdem war seine Bewegung unerwartet gelenkig, als er sich jetzt bückte und einen stabförmigen Gegenstand ins Feuer stieß. Dann trat er rasch ein paar Schritte zurück.

»Nimm das!« befahl er.

Janet ergriff den aus dem Flammenspiel ragenden Stiel – es war ein Blechrohr, um das mit Fäden ölgetränkte Lumpen gebunden waren.

»Geh vor, dort hinüber!«

Janet erhob ihre Fackel und schlug die angegebene Richtung ein. Der Mann ging seitlich von ihr, in etwa drei Meter Abstand.

»Ihr bleibt da!« schrie er seinen Leuten zu.

Sie standen am Feuer, blickten ihnen böse nach und tuschelten.

An einer hochragenden Steilwand blieb der Breite stehen.

»Rühr dich nicht vom Fleck!«

Er kletterte über einige Mauervorsprünge auf einen hüttengroßen massiven Zementblock.

»Nachkommen!«

Er stand oben wie ein Monument, riesengroß hing hinter ihm sein Schatten an der Mauer.

Janet hatte Mühe, Halt zu finden. Ihr stand nur eine Hand zur Verfügung, mit der anderen mühte sie sich, die Fackel hochzubringen, ohne sich zu versengen.

Sie kam auf eine Plattform, auf der gleich Pilzen einige klobige Eisenpfeiler standen. Der Gedrungene nahm ein quadratmetergroßes, laut schepperndes Stück Eisenblech und ließ es über den Mauerabbruch zur letzten Stufe hinab, locker lehnte er es an die Wand. Er wandte sich zu Janet.

Sie hatte die Fackel zwischen zwei Glieder einer schweren Kette gesteckt und sich auf einen Haufen Zellfaserrollen gesetzt. Ihr Blick war herausfordernd.

Der Mann kam auf sie zu, er ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. Seine Augen blickten ausdruckslos, tiefe Säcke hingen darunter. Er hat seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, dachte Janet. Wer den Revolver besitzt, darf nicht mehr richtig schlafen. Sein Gesicht kam auf ihres zu. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, aber sie schrie nicht. Er drückte sie hintenüber und küßte sie. Sie bemühte sich, nicht darauf zu achten, aber es gelang ihr nicht. Und dann kam sie darauf, daß sie sich getäuscht hatte: denn sie spürte als ständige Mahnung den Revolververlauf an ihren Rippen.

Kurze Zeit hindurch zitterte die Panik in ihr, aber sofort fing sie sich wieder und konzentrierte sich darauf, ein rettungsverheißendes Anzeichen zu finden.

Sie fühlte die feuchten Lippen des Mannes auf ihren Wangen, er schloß die Augen und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.

Wie in einem jäh anlaufenden Film schossen ihr einige Sätze aus ihren Lehrtexten durch den Kopf, einige Assoziationen flimmerten vorbei, der daumenlutschende Säugling, das Rhesusäffchen aus den alten Filmen, die Ersatzmutter aus Wolle und Draht. Zwei Sekunden lang, drei Sekunden lang bewegte sich der Mann nicht, eng an sie geschmiegt – wenn auch die Waffe für keinen Augenblick abglitt.

Janet besaß keine Drogen, die sie normalerweise bei ihrer Arbeit benutzte, keine Präparate und kein Gas. Aber die Bereitschaft des Mannes war da, und die Erschöpfung... Was schadete es? Sie mußte es versuchen.

Sie begann mit leiser, undeutlicher, singender Stimme zu reden, oft keine Worte, sondern nur Laute der Beruhigung und Beschwichtigung.

»Du bist müde... müde... müde, du willst schlafen... Schlafe, schlafe, schlafe, bleib ruhig, nur ruhig, du schläfst, jetzt schläfst du... Schlafe... schlafe...«

Ohne Hebungen und Senkungen leierte ihre Stimme. Der Mann hörte zu, er setzte diesen Verlockungen keinen Widerstand entgegen, vielleicht war er sich auch der Gefahr nicht bewußt.

»... müde, müde, müde... Ganz entspannen, schlafen, schlafen...«

Sie fühlte keine Bewegung mehr. Die Waffe drückte nur noch schwach, aber sie war noch da.

»... tief schlafen, tief, tief, tief schlafen... tief atmen, tief atmen... entspannen... entspannen...«

Die Atemzüge, die heiß an ihr Haar hauchten, waren noch unruhig, aber sie verlangsamten sich...