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»Hast du gut beobachtet, Trombe?« fragte Bell. »Das sind sie, die freien Menschen. Das ist die Freiheit. So sieht das Leben in Freiheit aus. Der Kampf ums Dasein. Die natürliche Auslese. Schau dich an!«

Er hielt ihr einen Spiegel vor. Janet blickte in ein abgezehrtes, verkniffenes Gesicht, das sie nicht kannte, das Haar klebte feucht am Schädel, ein zerfetztes Männerhemd war an ihrem Hals mit einer Schnur befestigt, die durch die Löcher im Stoff gefädelt war. Sie wandte den Blick zu Boden.

»Ich wünsche«, sagte Bell, »alle Psychologen könnten das sehen, was du gesehen hast. Es wäre der beste Anschauungsunterricht.«

»Und alle romantischen Schwärmer«, fügte Farmer hinzu, »die von der abenteuerlichen Vergangenheit ohne Gesetze träumen.«

»Alle Verbrecher sollten es mitmachen«, fiel Czerny ein, »damit sie vor der Lobotomie noch einsehen, wohin das führt, was sie tun.«

»Man sollte es nicht dem Zufall überlassen«, sagte Farmer. »Man sollte es gesetzlich verankern – nicht als Strafe: als Belehrung! Ich werde bei der nächsten Versammlung einen Antrag stellen.«

»Was machen wir mit Trombe?« fragte Bell.

»Sie soll sich entscheiden«, antwortete Farmer.

Bell hob die Hand und gab Graudenz ein Zeichen. »Frage sie!«

Graudenz trat dicht vor Janet. Er begann zu sprechen.

»Du bist zurückgekehrt. Du bist wieder in der Klinik. Eric Frost liegt unten, in irgendeinem Gang im Flußsystem. Du weißt, was du begangen hast – du hast die Gesetze gebrochen. Du hast dich gegen den Staat aufgelehnt. Du hast Eric befreit. Dann hast du noch einen Befehl mißachtet, Czernys Befehclass="underline" Du bist mit Eric ins Flußnetz geflüchtet. Aber der Beginn deiner Verfehlungen liegt noch weiter zurück – und dadurch hast du dich verraten: Du hast die Testergebnisse Erics gut ausgehen lassen – obwohl du gewußt hast, daß das verboten ist. Jetzt bist du wieder an deinem Arbeitsplatz. Wir sind bereit, zu vergessen. Willst du deiner Arbeit wieder nachgehen?«

»Eric...«, flüsterte Janet. Sie hatte die Augen geschlossen.

»Eric darfst du nicht wiedersehen. Du mußt ihn vergessen.«

»Nein«, flüsterte Janet.

»Eric ist ein Verbrecher. Er ist unheilbar. Ihm hilft nur die Lobotomie. Du hast noch eine Chance. Du kannst alles wieder rückgängig machen. Bedauerst du das, was du getan hast?«

»Nein«, flüsterte Janet.

»Hast du es dir gut überlegt? Bist auch du nicht normal? Dann bliebe auch für dich nur die Lobotomie!«

»Nein«, flüsterte Janet. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen.

»Du kannst Eric nicht mehr helfen. Wenn er mit dem Leben davonkommt, bleibt er unten – dort gehört er hin –, bis er sich in den Schacht stürzt, und dann blüht ihm die Lobotomie. Vergiß ihn!«

Janet antwortete nicht.

»Willst du wirklich zurück in die Unterwelt? Sollen wir dich hinunterbringen? Wir kennen genug Zugänge. Wir haben Fenster, durch die wir beobachten. Aber wir greifen nicht in das ein, was unten geschieht. Bis dorthin reicht das Gesetz nicht. Sollen wir dich zurückbringen? Dann kommst du niemals zur Erdoberfläche zurück. Sollen wir dich wirklich zurückbringen?«

»Ja«, sagte Janet und öffnete die Augen.

Sie sah gerade vor sich hin. Es kam ihr vor, als sei inzwischen ein Dunst verronnen, der im Zimmer gelegen hatte, sie erfaßte alles mit erhöhter Deutlichkeit, sie bemerkte eine Unmenge Einzelheiten, die vorher gefehlt hatten. Sie sah die gesprenkelten Pupillen der Augen von Graudenz, den bis oben geschlossenen Reißverschluß von Czernys Anzug, Farmers Notizbuch, das aus der Seitentasche hervorsah, und Bells vor dem Bauch gefaltete Hände...

... sie sah diese Hände...

Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie riß die Augen weit auf.

Noch immer starrte sie Bells Hände an... Die Finger waren vollzählig, keiner fehlte...

Janet sprang auf, stieß Graudenz zurück, Czerny packte zu, von der anderen Seite Farmer, Bell rief nach Pflegepersonal. Durch die offene Tür rannten drei Männer, griffen ins Handgemenge ein und schleppten Janet schließlich hinaus.

»Ich will nicht«, schrie sie. »Ich will nicht... Es war alles nicht wahr! Alles war Lüge! Alles Lüge.«

Sie schluchzte und schrie dann wieder: »Ihr habt mich unterm Netz gehabt! Ich will nicht, ich will nicht...«

Dann glitt eine Tür zu, und ihr Schreien war nicht mehr zu hören.

Am nächsten Morgen schon wurde die Lobotomie an ihr vollzogen – zwei Tage später als an Eric.

6

Erwachen

Glasperlenregen rieselte herab, der Himmel war ein großes, feuchtes Zelt, der Traum griff aus der Dämmerung hervor. Ein Engel lief barfuß durch den Wald, über den Perlmuttdächern wölbte sich der gelbe Regenbogen. Der Garten war ein See von blauem Duft, ein Greis lehnte an der brüchigen Mauer, ein Greis mit einem zerknitterten Herbstgesicht. Die Dunkelheit schlief zwischen den Stämmen, braunschwarz und voll heimlichen Gesangs...

Farben, Klänge, Gerüche – sie strömten herein, eine silberne Flüssigkeit in ein weit offenes hungriges Becken, eine silbrig bewegte Flüssigkeit, deren Wellen die Gefäßwand streichelten...

Farben, Klänge, Gerüche, Empfindungen – ein bunter Reigen in leerem Raum.

Und dann die Zügel...

»Ich bin Eric!«

Wellenschlag von der Seite – Indizes, Matrizen, Tensoren, Determinanten, Gleichungen, Tabellen...

Wellenschlag von der Seite – Sanftheit, Zärtlichkeit, Erstaunen, Ablehnung, Widerstand...

»Ich bin Janet.«

»Ich bin Eric.«

Das Suchen, der Schrecken, das Entsetzen...

Er suchte seine Finger, er versuchte seine Finger zu spüren... nichts. Die Vision einer verstümmelten Hand, einer Hand ohne Finger. Er tastete weiter... Schrecken – ein Arm ohne Hand, ein Leib ohne Arm... ein Kopf ohne Leib...

Sehen.

Sehen!

Dunkelheit.

Hören.

Hören!

Stille.

Er horchte in sich hinein. Fremde Gedanken waren da... keine Gedanken! – fremdes Wissen. Ein unglaublich reichhaltiges Reservoir von fremdem Wissen. Er ließ davon ab, suchte weiter... etwas Vertrautes, Bekanntes, Ersehntes...

»Ruth...«

»Eric.«

Er erhielt Antwort aus dem Dunkel. Er brauchte nur zu denken.

»Ruth.«

»Eric...«

Erinnerungen stülpten sich wie schwingende Glocken über ihn. Sie übertönten ein vages Gemälde von Gärten, Pflanzen, Dämmerung, Wehmut, müden Menschen wie ein Schrei. Stählern fielen sie über ihn, packten ihn, schüttelten ihn.

Erinnerungen.

Ein Reigen schwarzer Schemen... sternenlose Nacht...

Weißgekleidete Männer – ein Tribunal.

Ein Begriff: Lovis. Eine Sehnsucht: Ruth.

»Janet!« rief eine Stimme dazwischen.

Weißschäumendes Wasser, schwarzes Geäst.

Nichts mehr.

Doch...

... eine Stadt. Häuser, Gänge, Fenster, Straßen. Und wieder Häuser. Und wieder Gänge. Irgendwer tut irgendwas in dieser Stadt. Irgendwer geht durch die Straßen, als ob er schliefe. Unwichtig.

Vorbei.

Die Gegenwart...

... eine dunkle, leere Gegenwart.

Eine Gegenwart ohne Umgebung.

Doch diese Gegenwart meldete sich...

Ein Feuerstrahl floß durch ihn, der Körper, der nicht mehr da war, krampfte sich zusammen... Licht brach über ihn herein, ätzend, sengend... Eine Explosion schwoll auf, eine andauernde ununterbrochene Explosion, die ihn zerriß... Sein Denken zersplitterte in einzelne, lose treibende Fetzen.

Irgend etwas jagte immer neue Schauer durch die imaginäre Kapsel seiner Vorstellungen.

Jähe Dunkelheit, jähe Stille...

Und dann kam das, ohne das er ein duldendes Nichts geblieben wäre, das letzte Stück, das noch fehlte...