Vries flüsterte etwas, die anderen verstanden nur Bruchstücke: »... kann uns nicht mehr hören... Wir haben uns selbst...«
»Seht doch!« stöhnte Rety in fassungsloser Verzweiflung.
Einer der Bildschirme hatte wieder Farbe gewonnen. Das Schwarz war einem orangenen Leuchten gewichen, einem wallenden, sich da und dort zu spitzen Reflexen konzentrierenden Leuchten – einem Bild wie von krausen Wasserwellen gespiegelt. Dann schwankte es plötzlich, fiel zusammen... Blitzende weiße Brocken trieben im All, spitz gezackt, von knotigen Farbringen gekrönt, Strahlenbüschel sträubten sich wie Haare... Wieder ein Schwanken... Das Orange beherrschte die Szene wieder: das Glühen, das Brennen, die feurigen Wirbel, Funkenregen, Flammen...
Das Relais klickte mit erbarmungsloser Sachlichkeit in das stumme Entsetzen hinein. Der herauslaufende Lochstreifen surrte... immer weiter, er hörte gar nicht mehr auf. Das Papier hing zu Boden, gespannt wie eine Eisenkette.
Rety lag am nächsten. Verzweifelt schob er seine Hand zu der zusammengeringelten weißen Schlange, tappte tolpatschig danach...
»Was gibt es?« ächzte Ebb.
Auf dem Streifen standen einige Sätze, die sich ständig wiederholten: ›MEIN LETZTES ANGEBOT: REPARIERT DIE ANTENNE. DANN ENTFERNT EUCH AUS DEM SCHIFF. MEIN LETZTES ANGEBOT...‹
Auf dem Bildschirm erschien eine Milchstraßenspirale, aber keine millionenalte, friedliche, sondern eine aus ionisiertem Gas, aus rotierenden Plasmaschwaden – eine Milchstraße im ungebärdigen, energieüberladenen Urzustand. Einer der Spiralarme weitete sich aus, schien nach ihnen zu greifen, sie tauchten in ihm unter, glühende Fetzen, die ersten Stücke geballter Materie schwirrten um sie herum – in regellosem Durcheinander, schwerelos, wie Amöben unter dem Mikroskop. Und langsam begann die Temperatur zu steigen...
»Wir verbrennen!« wimmerte Orch. »So tut doch was... bitte... Rety... Du mußt... einen Ausweg... Vries... Ebb... Ihr wißt doch...«
»Halt den Mund«, zischte Rety zwischen keuchenden Atemzügen. »Vries, Ebb... Wie können wir... es ihm mitteilen...?«
Ebbs fülliger Körper war der Fliehkraft am stärksten ausgesetzt, aber Ebb war der Jüngste und besaß Reserven. In das dumpfe Dröhnen in seinem Kopf hinein schrillte ein Alarmsignal – der Wille zum Leben, die Furcht vor der leeren, langen Ewigkeit. Er achtete nicht auf seine schmerzenden Glieder, auf die Krämpfe in seinem Herzen, er kroch über den Boden wie seine tierischen Urahnen, nur viel mühevoller und verbissener, aber aus demselben dumpfen Wollen heraus, das auch den Wurm und die Ameise treibt. Jede Niete, die sich unter dem Bodenbelag hervorwölbte, war ein Berg, die Ritze zwischen zwei Plastikstreifen eine Kluft, die es zu überwinden galt, und dann berührten seine Fingerspitzen den Fuß des Tischchens, auf dem die Schreibmaschine stand. Wie ein selbständiges, von eigenem Willen erfülltes Wesen klammerte sich seine Hand daran, ruckte und zuckte um Millimeter höher, kletterte empor wie an einem glitschigen Seil, die ungeheure Last des Armes nachschleppend, erreichte den Überhang der Tischplatte, stieß darüber hinweg... Es war zuviel – Schwäche taumelte von seinem Kopf aus durch den Körper, die Finger zogen sich schmerzhaft zusammen, krallten sich ein – hätte die physische Kurzschlußreaktion des Krampfes nicht geholfen, wäre seine Hand jetzt heruntergefallen... Aber sie hielt durch... ein Augenblick der Sammlung...
Ebb wußte, daß von gezieltem Schreiben keine Rede sein konnte. Er nahm einen geistigen Anlauf, reckte den Arm hoch und ließ dann die gespreizten Finger wahllos über das Stufenfeld der Tastatur abwärtsschleifen. Er fand keinen Halt mehr, die letzte Kraft versiegte... Der Arm schlug leblos am Boden auf.
Sinnloses Bemühen...
Sinnlos?
Änderte sich nicht etwas im Raum? Rissen nicht tausend zähe Fäden? Öffneten sich nicht die Fesseln der Zentrifugalkraft ein wenig? Nicht sinnlos..
Die Rotation verlangsamte sich zwar nicht auf das normale Maß, aber sie ließ nach. Vries richtete sich schwindelig auf und kroch auf Knien und Ellbogen zur Schreibmaschine, neben der Ebb mit geschlossenen Augen lag. Vries erhob sich in kniende Stellung. Seine Finger tropften plump auf die Tasten: ›Einverstanden.‹
Die Fliehkraftfessel lockerte sich noch ein wenig. Vries holte Draht, Lötkolben und Zange herbei und spannte die Antennenfäden neu. Dann ging ein Zucken durch den Reparaturwagen – die Funkverbindung war wiederhergestellt. Sie hatten die Bedingung erfüllt. Und sie waren einer überlegenen Macht bedingungslos ausgeliefert.
Der Lochstreifen lief: ›AUSSTEIGEN.‹
»Aber...«, rief Rety.
›UNVERZÜGLICH AUSSTEIGEN. WIR NÄHERN UNS DEM ZENTRUM DES WIRBELS MIT JEDER MINUTE UM EINE MILLION KILOMETER.‹
»Wir sind verloren!« stammelte Orch.
»Wir müssen hinaus«, rief Rety, »da haben wir wenigstens noch eine Chance!«
Er lief zur Tür – sie war offen. Er hob den Radiofonhörer ab – das gewohnte regelmäßige Tuten erscholl. »Alarmstufe eins«, rief er. »Fertigmachen zum Aussteigen!« Er drückte auf den roten Knopf: ›Alarm!‹
Es war tausendmal eingeübt und funktionierte mit der unverständlichen Zielsicherheit eines Bienenstaates. Ein Rettungsboot nach dem anderen schoß aus dem Mund des Torpedorohres. Zweiunddreißig Insassen des Schiffes saßen dicht gedrängt in acht Zylinderbooten, die gewöhnlich für zwei Personen bestimmt waren, im Notfall aber vier faßten. Jedes war mit einer chemischen Batterie, mit einem Luft- und Wasserregenerator und mit Nährkonzentraten ausgerüstet. Aber – würde die Isolation der Hitze standhalten?
Jeder der Schiffbrüchigen erlebte es in gleicher Weise: Er fiel in den Raum hinaus – und es war der gewohnte sternenübersäte Raum ihrer unaufhörlichen Reise. Sie waren nicht der Macht, sondern dem Geist unterlegen – Opfer ihrer eigenen Panik. Das Ringschiff rotierte ruhig über ihnen hinweg. Als es das letzte Boot ausgespien hatte, drehte es ab und schwang in die Unendlichkeit hinaus.
2
Weißschäumendes Wasser, schwarzes Geäst
Das Rot schwamm in einem Meer von Weiß. Die farbigen Tinten rannen ineinander, mischten sich, lösten sich, verschmolzen erneut. Der Horizont tanzte. Schleier lagen davor. Nichts war da als dieses Rot und dieses Weiß.
Eric starrte vor sich hin. In seiner Magengrube saß ein dumpfer Druck. Seine Augen schmerzten. Er wurde sich bewußt, daß er vor sich hinstarrte, spürte, daß ihm übel war. Er senkte die Lider über die trockene Netzhaut und drückte mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Er öffnete die Augen wieder...
Noch immer schwamm das Rot im Weiß. Noch immer wogten die Farben. Doch die Schleier verschwanden, verflogen, verloren sich. Die Trennungslinie schwankte noch, aber die fahrige Bewegung fing sich in einem beruhigenden, stetigen Wellenschlag. Sie pulsierte im Rhythmus von Erics Herz. Und jetzt klaffte der ganze Horizont wie ein Schnitt.
Eric stand auf Metall. Vor ihm wölbte sich das Metall zu einer Balustrade auf. Jenseits der Balustrade breitete sich eine teigig weiße Flüssigkeit, über die von Zeit zu Zeit träge, auffällig langsame Wellen krochen. In Ungewisser Ferne, zwischen Himmel und Horizont, streckte sich ein schwarzer Strich nach links und rechts.
»Die Korallenbank«, ertönte eine Stimme neben ihm. »Sie wird ständig größer.«
Eric schüttelte etwas von sich ab. Er war sicher, daß er nicht geschlafen hatte, und doch suchte er die Erklärung für das Gegenwärtige jenseits jener Schwelle, hinter der die Gedanken in Träume zerfließen. Er forschte in den Winkeln seines Denkens, wie man im Dunkeln nach der Klinke tastet: Er durchstöberte alle Fächer seines Gehirns wie der Blinde den leeren Raum nach einem Schlüssel.
Taumelig trat er an die Brüstung. Der stumpfe mehlige Glanz hob sich ihm entgegen und fiel zurück, hob sich und fiel in gnadenlosem, maschinenhaftem Gleichmaß. Das graue Rechteck, das seine Augenwinkel gerade noch erfaßten, wurde größer, wurde kleiner.