»Ich habe Angst!« sagte die Stimme.
Das Boot. Ja, es war das Boot. Er hatte den Schlüssel gefunden. Da war das Boot. Dort lag die Korallenbank.
»Fahr allein, wenn du drauf bestehst! Ich bleib’ hier.«
Stück für Stück baute er sein Wachsein auf. Er stand auf der Plattform der Station. Oben drehten sich die Peilantennen und Parabolspiegel. Wie Gespinst hingen die Drähte an den Masten.
»Um keinen Preis steig’ ich ins Boot, verstehst du?«
Seitlich ragte die Rakete aus der milchigen Emulsion heraus, reglos, unbeweglich, gefesselt vom Magnetfeld der Turmschiene. Neben ihm, auf seinen zusammenklappbaren Spinnenbeinen, stand der Kugelkörper Euklids, dessen vorgewölbtes Facettenauge ausdruckslos nach allen Seiten zugleich blickte.
»So sprich doch, du Narr! So sag doch endlich was!«
Der ihn an der Schulter rüttelte, war Sid Rosselino. Er selbst war Eric Frost. Er befand sich auf dem vierten Planeten der Sonne Heyse II in der nahen Löwengruppe, irgendwo in der Leere des Raumes. Und irgendwo in der Leere war die Sonne, war die Erde. Die letzten Schleier zerrissen. Er stand gebückt, als laste ein Gewicht auf ihm, doch jetzt richtete er sich auf. Er hatte eine Aufgabe.
»Nur ruhig, Kleiner«, sagte er.
Er blickte in das braune Gesicht mit den lebhaften schwarzen Augen, aus denen der Schrecken schrie. Der Körper des Kameraden steckte in einem grauen Kombinationsanzug, der Reißverschluß war auf der Brust geöffnet, und die behaarten Hände Sids zerrten daran, als sei ihm das Kleidungsstück zu eng geworden. Eric wußte wieder, was er zu tun hatte. Nur im tiefsten Hintergrund seines Schädels blieb ein Schimmer von etwas Unverständlichem zurück, die Ahnung von etwas Absurdem, mit den Tatsachen völlig Unvereinbarem.
»Beruhige dich, Sid«, mahnte er.
Seine Augen hingen wieder am schwarzen Strich in der Ferne. Ihm war, als sei dieser in der kurzen Zeit, seit er ihn zuletzt angeblickt hatte, vordergründiger und gewichtiger geworden – ein eindringlich wachsender schwarzer Balken am Rande der Unendlichkeit.
»Bleib hier, es ist sowieso besser, einer von uns bleibt hier. Ich nehme Euklid mit.«
Sid hörte auf, an dem Reißverschluß zu zerren. Seine Hand hing wie erstarrt hinab. Der Roboter rührte sich nicht. Der schleppende Wellenschlag ließ gurgelnde und schmatzende Geräusche erschallen, unten, wo der Turm in die Flüssigkeit eintauchte, und es hörte sich an, als sei die warme, stickige Luft von unbestimmtem Raunen erfüllt, aus dem sich das häßliche Gegurgel immer wieder wie ein unzugehöriges Nebenprodukt ausschied. Es hörte sich an, als sei etwas Lebendiges in dieser fast wesenhaft dicken Luft, in der Milch der Emulsion und in den rätselhaften unsichtbaren Abgründen darunter, als wüchse etwas aus den Dingen heraus, etwas, das heftig arbeitete, sich reckte und streckte und dabei ächzend und stöhnend atmete. Manchmal kratzte und scharrte es, und dann lief ein leises Vibrieren durch den Wachtturm.
Sids Starre war einer überreizten Geschäftigkeit gewichen.
»Sei vorsichtig! Hörst du! Verlaß auf keinen Fall das Boot. Und nimm den Blaster mit!« Er lief in die Kammer und brachte die Waffe heraus.
»Und richte dich nach den Vorschriften! Du weißt, daß es gefährlich ist.«
Eric lächelte über seinen plötzlichen Eifer.
»Euklid, was weißt du Neues über die Korallenbank?«
Der Roboter bewegte sich noch immer nicht, doch seine leere Mikrofonstimme erscholl unverzüglich. »Die Entfernung des nächsten Punktes beträgt sieben Komma drei eins sechs plus minus null Komma null null fünf Kilometer; die Höhe über dem Flüssigkeitsniveau beträgt durchschnittlich zwölf Komma drei plus minus null Komma drei Meter; die mittlere Abweichung am uns zugewandten Rand beträgt eins Komma sieben Meter; das Spektrum des reflektierten Lichtes zeige ich am Bildschirm.«
Ein viereckiger Ausschnitt auf seinem in Ringe unterteilten Kugelkörper glomm auf, darauf leuchtete die unregelmäßig gewellte Schlangenlinie des Intensitäts-Frequenz-Diagramms.
»Was für Anhaltspunkte für die Zusammensetzung?«
»Einundsechzig Komma vier plus minus...«
Eric blickte nach der Armbanduhr.
»Nur die wahrscheinlichsten Werte bitte!«
Die Mikrofonstimme stockte und begann neu. Sie klang eine kleine Nuance anders als zuvor, und auch die Sekunde zwischen dem unterbrochenen alten und dem neu begonnenen Antwortsatz war durch den ausgelösten Einschaltvorgang elektronisch bedingt, doch Eric konnte sich nicht dagegen wehren, in der Pause, die den Sprechvorgang durch einen Willkürakt abriß, ein feines Zeichen der Mißbilligung zu sehen.
»Einundsechzig Komma vier Silizium, siebzehn Komma null Schwefel, drei Komma null Wasserstoff, zwei Komma acht Kohlenstoff, null Komma acht Mangan, null –«
»Wie ist diese Masse aufgebaut?«
Es kam Eric wie ein Unrecht vor, den Redefluß zu unterbrechen, und dennoch empfand er eine seltsame zerstörerische Freude dabei.
»Der Hauptbestandteil der Substanz besitzt ein doppeltes, flächenzentriertes, kubisches Ionengitter. Das zweite ist gegen das erste –«
»Die Makrostruktur bitte.«
Wieder das kurze Stocken.
»Die Substanz ist vielfach verzweigt, von unregelmäßiger Raumerfüllung, die Oberfläche ohne Spitzen oder Kanten.«
»Ist es ein lebendiger Organismus?«
Eric bekam keine Antwort.
»Ist es ein kohlenstoff- oder siliziumorganisches Gebilde im Sinn bekannter Lebensstrukturen?«
»Nein.«
»Befinden sich andersartige Dinge in der schwarzen Masse?«
»Das Innere ist mir nicht zugänglich; an der Oberfläche bemerkte ich nichts Andersartiges.«
»Na, dann komm, du sturer Bock!« Eric klatschte dem Metallkörper auf seinen glänzend glatten Kugelleib. »Wir wollen einmal nachsehen, was sich dort drüben tut.«
Er erhielt keine Antwort und wandte sich an Sid.
»Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, versuchst du, Verbindung zur Zentrale herzustellen.«
Sid wurde wieder nervös. »Verflucht, das darfst du mir nicht antun, Eric. Verflucht, wie komme ich dann von hier fort?«
»Denen kommt es nicht darauf an, noch eine Expedition zu schicken.«
Zwei Menschen und ein Roboter. Sie waren der dritte Trupp, der diesen plötzlich rührig gewordenen Planeten untersuchen sollte. Keiner vor ihm war zurückgekehrt.
»Verstehst du nicht – ich habe Angst!« rief Sid, als Eric die Stufen hinunterstieg. »Ich gebe es ja zu, ich habe Angst.«
»Sei ruhig, Kleiner!« sagte Eric.
Er zog das Boot heran und stieg ein. Der Roboter folgte ihm mit insektenhafter Gelenkigkeit. Der Motor summte auf. Die Flüssigkeit schäumte wie geschlagenes Eiweiß. Sie zogen eine Wolkenspur von Flocken hinter sich her, hauchdünne Hohlkugeln wie von einem Seifenblasenspiel, Tausende von weißtrüben Kaninchenaugen mit roten Pupillen, die sinnlos über die sanft wallende Oberfläche hetzten. Dieses trübe Gestöber legte sich wie ein Vorhang vor Sid, der die Hände an die Brüstung klammerte und ihnen mit weit geöffneten Augen nachsah.
Das Weiß umspülte sie und schien sie in sich hineinzusaugen, das Rot schwelte darüber; sein glühendes Zentrum war nach rechts gewandert. Das Weiß rührte von Myriaden mikroskopisch kleiner Gallertkügelchen her, die im Wasser trieben. Das Rot war der Glanz der Sonne Heyse II, der von jenseits des Horizonts herübersickerte. Es wanderte waagrecht weiter, weil sich die automatische Wachtstation am Nordpol des Planeten befand. Es war Winter, wenn man unter diesen kaum wechselnden, eintönigen Klimabedingungen von Jahreszeiten sprechen wollte.
»Welche Temperatur?« fragte Eric und unterbrach den anlaufenden Schaltvorgang noch im selben Moment. »Ach, laß es, es ist gleichgültig.«
Er spürte die laue, seltsam trockene Luft im Fahrtwind über seine Schläfen streichen. Er brauchte Euklid nicht. Er fuhr zu jenem Gebilde, dessen Emportauchen aus der endlosen Flüssigkeitswüste die automatische Station vor einem halben Jahr gemeldet hatte. Er befand sich auf jenem Planeten, der schon zwei Erkundungstrupps gefressen hatte. Ihn leitete ein Befehl. Der Traum hatte sich in ein unauffindbares Versteck in seinem Kopf zurückgezogen.