Die ausschließliche Verantwortung lag bei ihm. Er mußte die Route wählen und die lebenswichtigen Entscheidungen treffen, um Cromptons und seiner selbst willen.
Konnte er das überhaupt? Er war ein Mann der Großstädte, ein Wesen der Gesellschaft. Seine Probleme waren die Seltsamkeiten und Abnormitäten anderer Menschen gewesen, nicht die Stimmungen und Launen der Natur. Er war der rohen, drohenden Welt von Sonne und Himmel aus dem Weg gegangen, hatte nur in den raffinierten Gräben und komplizierten Ameisenburgen der Menschheit gelebt. Durch Bürgersteige, Türen, Fenster und Decken von der Erde getrennt, waren ihm Zweifel an der Macht jener gigantischen, zermalmenden Maschinerie der Natur gekommen, über die alte Schriftsteller so bewegend geschrieben hatten, die so viele Motive für Gedichte und Lieder lieferte. Natur, das war für Loomis ein Sonnenbad an einem lauen Sommertag auf dem Mars gewesen, oder das schläfrige Lauschen auf den Wind vor seinem Fenster in einer stürmischen Nacht.
Aber nun war er plötzlich in diese Maschinerie hineingeworfen worden.
Loomis dachte darüber nach und stellte sich plötzlich sein eigenes Ende vor. Er sah die Zeit kommen, zu der seine Energie verbraucht sein würde, und dann lag er wohl in irgendeinem winddurchheulten Paß oder saß mit gesenktem Kopf im peitschenden Regen des Sumpfgebietes. Er würde sich aufzuraffen versuchen, jene Kraft anrufen, die jenseits der Erschöpfung vermutet wird. Und er würde sie nicht finden. Ein Gefühl völliger Sinnlosigkeit würde ihn übermannen, allein und verloren in einer Unendlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt würde das Leben zu anstrengend, zu mühevoll erscheinen. Er würde, wie viele vor ihm, die Niederlage eingestehen, aufgeben, sich hinlegen und auf den Tod warten.
Loomis flüsterte: »Crompton?«
Keine Antwort.
»Crompton! Kannst du mich denn nicht hören? Ich überlasse dir das Kommando. Hol uns aus diesem irren Treibhaus heraus. Bring uns zurück zur Erde oder zum Mars! Crompton, ich will nicht sterben!«
Keine Antwort.
»Also gut, Crompton«, sagte Loomis heiser. »Du hast gewonnen. Tu, was du willst. Ich gebe auf. Bitte, übernimm das Kommando!«
»Danke«, sagte Crompton eisig und übernahm wieder die Kontrolle über seinen Körper.
Zehn Minuten später stand er im Zelt des Kommandeurs und erklärte, daß er es sich nun doch wieder anders überlegt hätte. Der Colonel nickte erschöpft und sagte sich, daß er die Menschen nie begreifen würde.
Bald danach saß Crompton in einem großen Kanu, inmitten der Stapel seiner Vorräte. Die Paddler begannen lauthals zu singen, als sie auf den Fluß hinausruderten. Crompton drehte sich um und blickte zurück, bis die Zelte der Vigilanten hinter einer Biegung verschwanden.
Für Crompton war die Fahrt den Blood River hinunter wie eine Reise zu den Anfängen der Zeit. Die sechs Eingeborenen tauchten gleichmäßig ihre Paddel ins Wasser, und das Kanu glitt wie eine Wasserspinne auf dem breiten, träge fließenden Strom dahin. Gigantische Farnhalme beugten sich über die Ufer, begannen zu erzittern, sobald sich das Kanu näherte, rückten sehnsüchtig auf langen Stengeln heran. Dann stießen die Paddler einen Warnruf aus, das Boot wurde zur Flußmitte gesteuert, und die Farne hingen in der Mittagshitze wieder schlaff herab. Das Boot erreichte Stellen, wo die Bäume über dem Fluß ineinander verschränkt waren und einen dunklen, laubbesetzten Tunnel bildeten. Crompton und die Ruderer mußten unter die Zeltleinwand kriechen und das Boot mit der Strömung treiben lassen, während von oben der ätzende Baumsaft heruntertropfte. Sie glitten wieder in das grelle Licht der Sonne, und die Eingeborenen griffen erneut zu den Paddeln.
»Unheimlich«, sagte Loomis nervös.
»Das kann man wohl sagen«, stimmte Crompton zu.
Der Blood River trug sie tief ins Innere des Kontinents. Nachts, wenn das Boot an einem Felsblock mitten im Strom festgemacht war, hörten sie die Kriegstrommeln feindlicher Ais-Stämme. Eines Tags tauchten hinter ihnen zwei Kanus mit Eingeborenen auf. Cromptons Leute legten sich in die Ruder, und das Boot schoß vorwärts. Die Verfolger blieben ihnen hartnäckig auf den Fersen; Crompton lud ein Gewehr und wartete. Aber seine Ruderer vergrößerten, von Angst beflügelt, den Vorsprung, bis die Ais schließlich hinter einer Biegung zurückblieben.
Sie atmeten auf. An einer Verengung des Flußlaufs wurden sie jedoch von einem Gewirr von Pfeilen aus beiden Uferwäldern empfangen. Ein Ruderer brach über dem Schandeckel zusammen, von vier Pfeilen durchbohrt. Die übrigen paddelten aus Leibeskräften, bis das Boot außer Schußweite war.
Sie warfen den toten Ai über Bord, und die hungrigen Flußbewohner rauften sich um die Beute. Danach schwamm ein großes, gepanzertes Tier mit den Armen und Beinen eines Krebses hinter dem Kanu her, den runden Kopf über dem Wasser haltend, stets auf Ausschau nach neuer Nahrung. Selbst Gewehrschüsse konnten es nicht vertreiben, und seine Gegenwart verursachte Crompton Alpträume.
Das Ungeheuer bekam eine weitere Mahlzeit, als zwei Paddler an einem graufarbenen Schimmel starben, der an den Rudern heraufkroch. Das krebsähnliche Wesen verschlang sie und wartete auf Nachschub. Aber es behütete das Boot wenigstens vor anderen Gefahren. Als ein Trupp von Eingeborenen zu einem Überfall ansetzte und das Ungeheuer erblickte, floh er in den Dschungel zurück.
Das Tier blieb die letzten hundertfünfzig Kilometer der Fahrt bei ihnen. Als sie sich schließlich einem bemoosten Kai näherten, hielt es an, starrte eine Weile beleidigt vor sich hin und schwamm dann stromaufwärts davon.
Die Ruderer steuerten das Boot zu dem verfallenen Kai. Crompton stieg hinauf und sah ein Stück Holz, das mit roter Ölfarbe bemalt war. Er drehte es um und las: >Blood Delta. 92 Einwohner.<
Hinter dem Kai lag nichts als Dschungel. Sie hatten Dan Stacks letzte Zuflucht erreicht.
Ein schmaler, bewachsener Pfad führte vom Kai zu einer Lichtung im Dschungel. Dort stand eine Geisterstadt. Kein Mensch zeigte sich auf der einzigen, staubigen Straße, keine Gesichter erschienen in den Fenstern der niedrigen, ungestrichenen Häuser. Die kleine Stadt dörrte unter dem weißlichgrellen Licht der Sonne stumm dahin, und Crompton hörte nichts als das Scharren seiner eigenen Schritte im Staub.
»Gefällt mir gar nicht«, sagte Loomis.
Crompton ging langsam die Straße hinunter. Er kam an einer Reihe von Vorratsschuppen vorbei, deren Wände mit den Namen der Besitzer in großen Lettern bemalt waren. Er sah eine leere Kneipe mit aufgerissenen Moskitonetzen vor den Fenstern und einer Tür, die nur noch an einem Scharnier hing, er sah drei verlassene Läden und erreichte schließlich einen vierten, an dem ein Schild mit der Aufschrift hing: >Stack & Finch. Proviant und Ausrüstung.<
Crompton trat ein. Am Boden waren große Warenstapel nebeneinander aufgereiht, andere Güter hingen von den Deckenbalken herab. Im Laden befand sich niemand.
»Hallo! Ist da jemand?« rief Crompton. Nichts rührte sich, und er trat wieder auf die Straße hinaus.
Am Stadtende erreichte er ein massives, scheunenähnliches Gebäude. Ein schnurrbärtiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit sonnverbranntem Gesicht saß auf einem Stuhl davor. In seinem Gürtel steckte ein Revolver. Sein Stuhl war nach hinten, gegen die Gebäudewand, gekippt, und er schien vor sich hinzudösen.
»Dan Stack?« fragte Crompton.
»Im Haus«, erwiderte der Mann.
Crompton ging zur Tür. Der Schnurrbärtige bewegte sich auf seinem Stuhl und hatte plötzlich den Revolver in der Hand.
»Weg von der Tür da«, befahl er.
»Warum? Was ist denn?«
»Sie wissen nicht Bescheid?« erkundigte sich der Schnurrbärtige.
»Nein! Wer sind Sie?«
»Ich bin Ed Tyler, von den Bürgern Blood Deltas gewählter Sheriff und vom Kommandeur der Vigilanten im Amt bestätigt.
Stack befindet sich im Gefängnis. Das Gebäude hier dient vorübergehend als Gefängnis.«