Aber sprach Stack die Wahrheit? Oder war die leidenschaftliche Rede ein letzter Versuch gewesen, Aufschub zu gewinnen?
Er mußte Stack Ehrlichkeit unterstellen. Er mußte Stack eine Chance geben.
Als der Karren davonrollte, waren Stacks Augen auf Crompton gerichtet. Crompton traf seine Entscheidung und ließ Stack ein.
Die Menge brüllte, als Stacks Körper vom Karrenrand kippte, sich einen Augenblick entsetzlich wand und dann leblos vom straffgespannten Strick hing. Und Crompton taumelte unter der Wucht des Eintritts von Stacks Ich.
Dann verlor er das Bewußtsein.
Crompton erwachte auf einem Feldbett in einem kleinen, schwach erleuchteten Raum.
»Geht es Ihnen besser?« fragte eine Stimme. Crompton erkannte Sheriff Tyler, der sich über ihn beugte.
»Ja, danke, ganz gut«, erwiderte Crompton automatisch.
»Für einen kultivierten Mann wie Sie ist eine Hinrichtung wohl ein großer Schock. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie jetzt allein lasse?«
»Keineswegs«, sagte Crompton teilnahmslos.
»Gut. Ich muß einiges erledigen.«
Tyler ging. Crompton versuchte, sich über das Geschehene klarzuwerden.
Integrierung. Verschmelzung. Erfüllung. Hatte er sie während der heilenden Bewußtlosigkeit erreicht? Er begann in sich nachzuforschen.
Er fand Loomis halb außer sich vor Angst, sinnloses Zeug von der Orangewüste, den Campingausflügen zum All Diamond-Gebirge, von Frauen, Luxus, Sensationen und Schönheit stammelnd.
Und da war Stack, massiv, unbeweglich, unintegriert.
Crompton sprach mit ihm und erkannte, daß Stack in seiner letzten Rede völlig ehrlich gewesen war. Stack wünschte sich zu ändern, Stack wollte Mäßigung und Selbstkontrolle.
Crompton erkannte aber auch, daß Stack unfähig war, sich zu ändern, Selbstkontrolle und Mäßigung zu üben. Selbst jetzt, ungeachtet seiner Anstrengungen, war Stack von einer leidenschaftlichen Rachsucht erfüllt. Sein Ich polterte wütend, ein tiefer Kontrapunkt zu Loomis' schrillem Gewinsel. Gewaltige Racheträume stiegen in ihm auf, phantastische Pläne, die ganze Venus zu erobern. Etwas gegen die verdammten Eingeborenen zu tun, sie auszurotten, Platz für die Menschen zu schaffen. Diesen verdammten Tyler langsam zu Tode zu foltern. Die ganze Stadt mit Maschinengewehrgarben niederzumähen, später dann zu behaupten, es sei das Werk der Eingeborenen gewesen; eine Truppe entschlossener Männer aufzustellen, eine Privatarmee von Anbetern Stacks, eiserne Disziplin zu halten, keine Schwäche, kein Zögern zu dulden. Die Vigilanten zu beseitigen, und niemand konnte Eroberungen, Morde, Rache, sinnlose Zerstörung, den Terror mehr aufhalten!
Von beiden Seiten angegriffen, versuchte Crompton das Gleichgewicht zu halten, seine Kontrolle über die beiden anderen Ichs auszudehnen. Er bemühte sich, die Fragmente zu einer Einheit zusammenzuschweißen, zu einem stabilen Ganzen. Aber die Ichs wehrten sich, sie dachten nicht daran, ihre Autonomie aufzugeben. Die Trennlinien wurden tiefer, neue Klüfte rissen auf, Crompton spürte, wie seine eigene Stabilität bedroht, seine geistige Gesundheit untergraben wurde.
Dann hatte Dan Stack einen klaren Augenblick.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann nichts dagegen machen. Ihr braucht den anderen.«
»Welchen anderen?«
»Ich habe es versucht«, stöhnte Stack. »Ich wollte mich ändern! Aber es gab zu viele Konflikte in mir. Ich dachte, ich könnte mich selbst heilen. Deswegen teilte ich mich.«
»Du hast was getan?«
»Hörst du denn nicht?« fragte Stack. »Ich war auch schizoid. Das hat sich hier auf der Venus gezeigt. Als ich nach Port New Haarlem zurückkam, besorgte ich mir noch einen Durierkörper und teilte mich. Ich dachte, alles würde leichter werden. Aber ich habe mich getäuscht!«
»Es gibt noch einen von uns!« rief Crompton. »Natürlich können wir uns dann nicht reintegrieren! Wer ist es, wo ist er?«
»Ich habe mich bemüht!« stöhnte Stack, »wie habe ich es versucht! Wir waren wie Brüder, er und ich. Ich dachte, ich könnte von ihm lernen, er war so ruhig und gut und geduldig und gelassen! Ich habe sogar gelernt! Dann wollte er aufgeben.«
»Wer war es?« fragte Crompton.
»Ich versuchte ihm zu helfen, ihn durch Schütteln davon zu befreien. Aber er siechte schnell dahin, er wollte einfach nicht mehr leben. Meine letzte Chance war dahin, und ich verlor ein bißchen den Verstand, ich schüttelte ihn und demolierte Moriartys Kneipe. Aber ich habe Barton Finch nicht umgebracht! Er wollte einfach nicht leben!«
»Finch ist das letzte Fragment?«
»Ja! Du mußt zu Finch gehen, bevor er stirbt, und du mußt ihn aufnehmen. Er liegt in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden. Du mußt dich beeilen.«
Stack verfiel wieder in seine Mordträume, und Loomis stammelte etwas von den blauen Xanadu-Höhlen.
Crompton richtete den Crompton-Körper vom Bett auf und schleppte sich zur Tür. Unten an der Straße konnte er Stacks Laden sehen. >Du mußt ihn erreichen<, sagte er sich, und taumelte auf die Straße hinaus.
Er legte eine Million Kilometer zurück. Er kroch tausend Jahre, Berge hinauf, durch Flüsse, Wüsten, Sümpfe, hinab in Höhlen, die zum Zentrum der Erde führten, und wieder hinaus in unermeßliche Ozeane, die er bis zum fernsten Ufer durchschwamm. Und am Ende der langen Reise kam er zu Stacks Laden.
Im Hinterzimmer lag Finch, die letzte Hoffnung auf Reintegrierung, auf einem Sofa, eine Decke bis zum Kinn hochgezogen. Crompton starrte ihn an und drohte in einer Welle der Hoffnungslosigkeit zu versinken.
Finch lag regungslos da, mit offenen, ins Leere gerichteten Augen, die auf nichts reagierten. Sein Gesicht war das große, weißliche, ausdruckslose Gesicht eines Idioten. Diese sanften Buddhazüge zeigten eine unmenschliche Ruhe, die nichts erwartete, nichts verlangte. Ein dünner Speichelfaden rann von seinen Lippen zum Kinn, und von Zeit zu Zeit schlug sein Herz. Als unzulänglichstes Ich war er der zum Exzeß gesteigerte Ausdruck des erdigen Temperaments Phlegma, das einen Menschen passiv und gleichgültig macht.
Crompton drängte den aufsteigenden Wahnsinn zurück und kroch zum Sofa. Er starrte in die idiotischen Augen und versuchte Finch zu zwingen, daß er ihn ansah, erkannte und sich zu ihm gesellte.
Finch sah nichts.
Er war gescheitert. Crompton erlaubte dem erschöpften, überanstrengten Crompton-Körper, neben dem Bett des Idioten niederzusinken. Teilnahmslos sah er sich auf den Irrsinn zutreiben.
Dann tauchte Stack mit dem verzweifelten Mut des Ertrinkenden aus seinem Rachetraum auf. Gemeinsam mit Crompton zwang er den Idioten, aufzusehen und zu schauen. Und Loomis suchte und fand die Kraft jenseits der Erschöpfung, unterstützte ihre Anstrengung.
Zu dritt starrten sie den Idioten an. Und Finch, gerufen von drei Vierteln seines Ichs, bäumte sich ein letztesmal auf. In seine Augen kam für den Bruchteil einer Sekunde Leben. Er erkannte.
Und trat über.
Crompton spürte die gewaltig hochflutende Geduld und Toleranz Finchs. Die vier Temperamente Erde, Luft, Feuer und Wasser waren endlich vereinigt. Und endlich wurde die Verschmelzung möglich.
Aber was war das? Was geschah jetzt? Welche Macht übernahm die Kontrolle, alles andere beiseitefegend?
Crompton kreischte, versuchte sich mit den Fingernägeln die Kehle aufzureißen, hatte beinahe Erfolg, brach neben Finchs Leiche am Boden zusammen.
Als der Körper auf dem Boden die Augen wieder aufschlug, gähnte er, streckte sich ausgiebig, genoß die Empfindung der Luft, des Lichts und der Farben, war zufrieden mit sich selbst und dachte, daß es auf dieser Welt Arbeit für ihn gab, daß Liebe gefunden werden, ein ganzes Leben gelebt werden konnte.
Der Körper, ehemaliger Besitz von Alistair Crompton, eine Zeitlang bewohnt von Edgar Loomis, Dan Stack und Barton Finch, stand auf. Er begriff, daß er einen neuen Namen für sich finden müßte.