DER TOD SPIELT MIT (Das Millionenspiel)
Raeder hob vorsichtig den Kopf über die Fensterbrüstung. Er sah die Feuerleiter, und unter ihr eine enge Gasse. Dort unten standen drei Abfalltonnen und ein defekter Kinderwagen. Hinter der letzten Tonne tauchte ein schwarzer Ärmel auf; die Hand umklammerte etwas Schimmerndes. Raeder duckte sich hastig. Eine Kugel pfiff durch das Fenster über seinem Kopf und schlug in der Decke ein. Putz bröselte auf ihn herab.
Jetzt wußte er über die Gasse Bescheid. Sie war bewacht, wie die Tür.
Er lag ausgestreckt auf dem rissigen Linoleum, starrte zum Einschuß an der Decke hinauf, lauschte den Geräuschen draußen vor der Tür. Er war ein hochgewachsener Mann mit blutunterlaufenen Augen und zwei Tage alten Bartstoppeln. Schmutz und Überanstrengung hatten sein Gesicht gezeichnet, die Angst seine Züge verändert, hier einen Muskel gespannt, dort einen Nerv zum Zucken gebracht. Das Resultat war verblüffend. Sein Gesicht hatte jetzt Charakter, denn es war durch die Erwartung des Todes umgeformt.
In der Gasse hielt sich ein bewaffneter Bandit auf, auf der Treppe waren zwei Gangster. Er saß in der Falle. Er war tot.
Gewiß, dachte Raeder, er bewegte sich noch, er atmete noch, aber das lag nur an der Unfähigkeit des Todes. In ein paar Minuten würde sich der Tod seiner annehmen, Löcher in sein Gesicht und seinen Körper stoßen, seine Kleidung künstlerisch mit Blut färben und seine Glieder in irgendeiner grotesken Variation des Friedhof-Balletts anordnen.
Raeder biß sich auf die Unterlippe. Er wollte leben. Es müßte doch einen Weg geben.
Er rollte sich auf den Bauch und studierte die schäbige Wohnung, in die ihn die Gangster getrieben hatten. Ein perfekter, kleiner Einzimmer-Sarg. Er besaß eine Tür, die unter Beobachtung stand, und eine Feuerleiter, die bewacht wurde. Und außerdem gehörte ein winziges, fensterloses Badezimmer zur Wohnung.
Er kroch auf dem Bauch zum Badezimmer und stand auf. In der Decke befand sich ein gezacktes Loch mit einem Durchmesser von nahezu vierzehn Zentimetern Durchmesser. Wenn er es vergrößern und sich in die Wohnung darüber hochziehen könnte.
Er hörte einen dumpfen Schlag. Die Mörder wurden ungeduldig. Sie begannen die Tür aufzubrechen.
Er studierte das Loch in der Decke. Sinnlos, überhaupt daran zu denken. Er konnte es niemals rechtzeitig vergrößern.
Sie warfen sich gegen die Tür, bei jedem Anprall Flüche ausstoßend. Bald würde das Schloß auseinanderbrechen, oder die Scharniere würden sich auf alle Fälle aus dem verfaulten Holz lösen.
Die Tür würde umstürzen, und die beiden Männer mit den ausdruckslosen Gesichtern würden hereinkommen, ihre Jacketts abstauben.
Aber irgend jemand würde ihm gewiß helfen! Er nahm den winzigen Fernsehempfänger aus der Tasche. Das Bild war verschwommen; er machte sich nicht die Mühe, es scharf einzustellen. Der Ton kam klar und deutlich aus dem Kleinlautsprecher.
Er hörte, wie die sonore Stimme Mike Terrys zur riesigen Zuschauerschaft sprach.
». furchtbare Situation«, sagte Terry gerade. »Jawohl, liebe Zuschauer, Jim Raeder ist in einer wirklich entsetzlichen Lage. Er hatte sich unter einem falschen Namen in einem drittklassigen Hotel am Broadway eingemietet, wie Sie sich entsinnen werden. Das schien Sicherheit genug zu bieten. Aber der Hotelpage erkannte ihn und verriet der Thompsonbande sein Versteck.«
Die Tür knarrte unter den heftigen Stößen. Raeder umklammerte das kleine Fernsehgerät und lauschte.
»Jim Raeder konnte gerade noch aus dem Hotel entkommen! Hart verfolgt, betrat er das Wohnhaus in der West End Avenue mit der Nummer 156. Er hatte vor, über die Dächer zu fliehen. Und es hätte klappen können, verehrte Zuschauer, es hätte beinahe geklappt. Aber die Tür zum Dach war abgesperrt. Das Ende schien nahe. Aber Raeder stellte fest, daß Appartement sieben unbewohnt war. Er flüchtete sich in die Wohnung.«
Terry machte eine Kunstpause, dann rief er: » - und jetzt sitzt er dort in der Falle, wie eine gefangene Maus! Die Thompson-bande bricht die Tür auf! Die Feuerleiter wird bewacht! Unsere Kameraleute, die von einem Gebäude in der Nähe aus arbeiten, vermitteln Ihnen jetzt Nahaufnahmen. Sehen Sie ihn, liebe Zuschauer? Gibt es keine Hoffnung mehr für Jim Raeder?«
>Gibt es keine Hoffnung mehr!< wiederholte Raeder stumm, während ihm der Schweiß aus allen Poren trat, als er in dem dunklen, stickigen Badezimmer stand und den regelmäßigen Stößen gegen die Tür lauschte.
»Einen Augenblick!« rief Mike Terry. »Halten Sie aus, Jim Raeder, halten Sie noch ein bißchen aus. Vielleicht besteht noch Hoffnung! Ich erhalte eben einen dringenden Anruf von einem unserer Zuschauer, einen Anruf über die Gute-Samariter-Leitung! Hier ist jemand, der glaubt, Ihnen helfen zu können, Jim! Hören Sie uns, Jim Raeder?«
Raeder wartete. Die Scharniere der Wohnungstür brachen aus dem angefaulten Holz.
»Sprechen Sie ruhig, Sir«, sagte Mike Terry. »Wie heißen Sie, Sir?«
»Äh - Felix Bartholemow.«
»Nur keine Nervosität, Mr. Bartholemow. Äußern Sie sich.«
»Na ja, okay, Mr. Raeder«, erklärte die zittrige Stimme eines alten Mannes, »ich habe früher in der West End Avenue 156 gewohnt. Sogar in demselben Appartement, wo Sie sich jetzt aufhalten, Mr. Raeder. Hören Sie, das Badezimmer hat ein Fenster, Mr. Raeder. Es ist übermalt worden, aber es da -«
Raeder steckte den Fernsehapparat in die Tasche, entdeckte die Umrisse des Fensters und stieß mit dem Fuß zu. Glas splitterte, und plötzlich drang Tageslicht ins Badezimmer. Er räumte die gezackten Splitter vom Fensterbrett und schaute hinaus.
Es ging weit hinunter auf einen Hof mit Betonboden.
Die Scharniere rissen aus dem Holz. Er hörte, wie die Tür zu Boden stürzte. Hastig stieg er durchs Fenster, hing einen Augenblick an den Fingerspitzen und ließ sich fallen.
Der Aufprall nahm ihm die Luft weg. Betäubt erhob er sich. Im Badezimmerfenster erschien ein Gesicht.
»Pech«, sagte der Mann, beugte sich hinaus und zielte mit einer stumpfnasigen Pistole.
In diesem Augenblick explodierte im Badezimmer eine Rauchbombe.
Der Schuß des Gangsters verfehlte sein Ziel bei weitem. Fluchend fuhr er herum. Weitere Rauchbomben detonierten im Hof, und der Nebel hüllte Raeder ein.
Er hörte Mike Terrys aufgeregte Stimme aus dem Gerät in seiner Tasche tönen. »Laufen Sie!« schrie Terry. »Laufen Sie um Ihr Leben, Raeder! Fliehen Sie, solange die Gangster noch durch den Rauch behindert werden. Und danken Sie der Guten Samariterin Sarah Winters aus Brocktan, Massachusetts, Edgar Street 341, die fünf Rauchbomben gestiftet hat und einen Mann beauftragte, sie zu werfen!«
Mit etwas ruhigerer Stimme fuhr Terry fort: »Sie haben heute einem Menschen das Leben gerettet, Mrs. Winters. Würden Sie unseren Zuschauern sagen, wie es -«
Raeder konnte sie nicht mehr hören. Er raste durch den raucherfüllten Hof, vorbei an Wäscheleinen, hinaus auf die offene Straße.
Er ging die 63. Straße hinunter, gebückt, um seine Größe ein wenig zu tarnen, taumelnd durch die Erschöpfung, schwindlig aus Mangel an Nahrung und Schlaf.
»He, Sie da!«
Raeder drehte sich um. Auf den Stufen eines Wohnhauses saß eine ältere Frau und sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an.
»Sie sind Raeder? Der, den sie umbringen wollen?«
Raeder ging weiter.
»Kommen Sie hier herein, Raeder«, sagte die Frau.
Vielleicht war es eine Falle. Aber Raeder wußte, daß er auf die Großzügigkeit und Anständigkeit der Leute vertrauen mußte. Er war ihr Repräsentant, eine Verkörperung ihres Wesens, ein einfacher Mann in Schwierigkeiten. Ohne sie war er verloren. Mit ihnen konnte ihm nichts zustoßen.
Vertrauen Sie auf die Leute, hatte ihm Mike Terry gesagt. Sie lassen Sie niemals im Stich.
Er folgte der Frau in ihr Wohnzimmer. Sie bot ihm einen Stuhl an und verließ den Raum. Wenige Augenblicke später kam sie mit einem Teller Stew zurück. Sie beobachtete ihn, während er aß, wie man im Zoo einem Affen beim Verschlingen von Erdnüssen zusieht.